Scharfe politische und Klassenkämpfe Ende der 50er bis in die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts und die Reaktion des Staates

8. Kampf gegen die Atomkraft

Hintergrund

Das Geschäft mit der Kernkraft versprach riesige Gewinne. Schon 1953 rief Siemens eine Arbeitsgruppe Kernenergie ins Leben. Im Juli 1955 gründete Siemens zusammen mit AEG-Telefunken, BASF, Bayer, Degussa, Hoechst und der Metallgesellschaft die Arbeitsgemeinschaft Atomenergie. Etwas später wurde im Oktober 1955 das Bundesministerium für Atomfragen ins Leben gerufen. Erster Minister war der Freund des Kapitals Franz Josef Strauß.

1969 gründeten Siemens und AEG gemeinsam das Tochterunternehmen Kraftwerk Union (KWU) in Mülheim/Ruhr und legten 1970 ihre Produktions- und Forschungsstätten zusammen. 1976 übertrug die AEG ihren Anteil an der KWU auf Siemens. Siemens war von diesem Zeitpunkt an der Alleinherrscher über das Atom in der Bundesrepublik.

„Die KWU stieg in der Folge zum weltweit führenden Hersteller für Atomkraftwerke auf. Mitte der 1970er Jahre betrieb Siemens auch das Konzept des Brennelementekreislaufs und beteiligte sich an NUKEM und ALKEM. Der Konzern übernahm später das Brennelementewerk in Lingen und war (ab 1972, der Verf.) Alleineigentümer der Interatom, die für Entwicklung und Betrieb des Schnellen Brüters von Kalkar zuständig war.“ (Siemens und KWU | AtomkraftwerkePlag Wiki | Fandom powered by Wikia)

Eine Liste der Atommeiler inklusive Hersteller ist hier zu finden: (RSH A.19 Kernkraftwerke – A19_Kernkraftwerke_0613.pdf)

„Siemens/KWU war auch im Ausland tätig. Um an Aufträge zu gelangen, half der Konzern oft mit Bestechung nach, wie später aufgedeckt wurde.

1969 wurde mit dem Iran unter dem Schah-Regime ein Vertrag in Höhe von 12 Mrd. Deutsche Mark für den Bau von zwei Buschehr-Reaktoren vereinbart… (Laut Ermittlungsakten flossen 400 Mio DM Schmiergelder – der Verf.) 1974 wurde mit dem Bau begonnen, nach der Revolution zog sich Siemens jedoch zurück, und Russland übernahm 1995 die Fertigstellung.

Siemens errichtete die Atomkraftwerke Borssele (Niederlande 1973), Atucha-1 (Argentinien 1974), Gösgen (Schweiz 1979) und Trillo-1 (Spanien 1988). Siemens war darüber hinaus auch am Bau des brasilianischen Atomkraftwerks Angra beteiligt. Auch für diese Projekte flossen üppige Schmiergelder.“ (Siemens und KWU | AtomkraftwerkePlag Wiki | Fandom powered by Wikia)

Im Hanauer Atomdorf in Hessen, in dem u.a. NUKEM, ALKEM ansässig waren, flog 1986 einer der größten Atomskandale der Bundesrepublik Deutschland auf. In Hanau gab es mit fast zehn Atomanlagen und -firmen die größte Zusammenballung der Atomindustrie in Europa.

Für die Firmen NUKEM, ALKEM und RBU gab es weder eine gewerbeaufsichtliche noch eine atomrechtliche Genehmigung. (Das Teufelszeug aus der Schwarzbrennerei – DER SPIEGEL 45/1986)

Trotzdem nahmen die Firmen in geheimer Absprache mit Politikern die Produktion und Lagerung von Brennelementen illegal auf. Dies wurde zwar schon Mitte der 1970er Jahre bemerkt, aber es wurden keine Konsequenzen gezogen.

„Auch elf Jahre danach besitzt keine der Atomfabriken die geforderte Genehmigung. Die Firmen haben noch nicht einmal alle notwendigen Prüfungsunterlagen vorgelegt. Wie trefflich es Atommanager und Ministeriale verstanden haben, die Genehmigungsverfahren immer wieder zu verzögern, belegt die Prüfung der Nukem-Anlagen. Das bloße Versprechen des Betreibers, das alte Werk durch einen sicheren Neubau ersetzen zu wollen, genügte dem hessischen Wirtschaftsministerium, um sechs Jahre lang stillzuhalten.“ (Das Teufelszeug aus der Schwarzbrennerei – DER SPIEGEL 45/1986)

Das Transportunternehmen Transnuklear (TN), eine NUKEM-Tochter, verschob illegal Atommüll über die deutsch-belgische Grenze und zahlte dafür Millionenbeträge an Mitarbeiter von Energieversorgungsunternehmen und Kraftwerken.

„Transnuklear bestach fast alle am illegalen Abfallkreislauf Beteiligten. Die Bestechungsgelder wurden zunächst nach einem festen Aktionsplan an Atommanager und Buchhalter in den großen Stromerzeugungsunternehmen wie PreussenElektra oder RWE gezahlt, später auch an Strahlenschutzbeauftragte, Kontrolleure sowie an Mitarbeiter der französischen und belgischen Nuklearindustrie. Bonner Ministerialbeamte wurden zu Gratisreisen eingeladen. Auf diese Weise wurde ein ungehinderter Grenzverkehr von Fässern, in denen u. a. Plutonium, Kobalt-60 und Cäsium-137 enthalten waren, erkauft. Die Beschaffung und Bereitstellung der Bestechungssummen und der Einkauf von Bestechungsgeschenken war Aufgabe der Transnuklear-Mutter NUKEM. Ein Transnuklear-Manager, der Atomkraftexperten bei seiner Kundschaft geschmiert hatte, und ein Angestellter der PreussenElektra, dem die Annahme von Schmiergeld vorgeworfen wurde, nahmen sich das Leben.“ (Korruption und Drehtür | AtomkraftwerkePlag Wiki | Fandom powered by Wikia)

„ALKEM lagerte in Belgien bei Belgonucleaire (BN) über Jahre hinter dem Rücken der belgischen Regierung 600 Kilogramm Plutonium. Zudem lieferten NUKEM und Transnuklear über Belgien spaltbares Material nach Pakistan und Libyen und die NUKEM-Tochter Inter-Nuclear schweres Wasser nach Pakistan, womit der Atomwaffensperrvertrag unterlaufen wurde. Daran beteiligt war auch das Unternehmen „Neue Technologien GmbH (NTG)“ aus Gelnhausen bei Hanau, das Know-how und nukleares Material aller Art nach Pakistan schaffte.“ (Hanauer „Atomdorf“ | AtomkraftwerkePlag Wiki | Fandom powered by Wikia)

Und was war das für eine Landesregierung, die die gemeingefährlichen und illegalen Praktiken der Atomindustrie unterstützten? Keine CDU-Regierung, von der man es als selbstverständlich angesehen hätte. Es war mal wieder eine SPD-Landesregierung mit Holger Börner an der Spitze. Auf dem Hintergrund dieser für die Bevölkerung gemeingefährlichen Allianz zwischen Staat und Kapital fand der Kampf gegen die Kernkraft statt. Dieser Kampf ist untrennbar verbunden mit den Namen Wyhl, Kalkar, Grohnde, Brokdorf, Wackersdorf und Gorleben.

Wyhl

Im Juli 1973 wurde durch den Rundfunk der Standort eines neuen Atomkraftwerkes in Wyhl am Kaiserstuhl in der Oberrheinebene bekannt gegeben. Spontan bildeten sich in Wyhl, Weisweil, Endingen und anderen Orten am nördlichen Kaiserstuhl Bürgerinitiativen. Die Bürger fingen an, sich über Klimaveränderungen, Nebelbildung, Grundwasserabsenkung und Sicherheitsprobleme beim Betrieb von Atomkraftwerken zu informieren.

Am 18. Februar 1975, am Tag des Baubeginns stellten sich Männer und Frauen mit ihren Kindern vor die Baumaschinen, brachten diese zum Stillstand und besetzten den Bauplatz. Am 20. Februar ging die Polizei mit Hundestaffeln und Wasserwerfern gegen die Besetzer vor. Wasser peitschte über das relativ kleine Häuflein der Platzbesetzer und Polizisten schleppten neben jugendlichen Bartträgern auch Seniorinnen vom Platz. Die Bilder von der Platzräumung gingen durch die Republik und lösten Empörung aus. Das Gelände wurde mit Panzerdraht eingezäunt. Nach einer Kundgebung am 23. Februar 1975, an der laut polizeilichen Angaben 28.000 Menschen teilnahmen, überwanden Kundgebungsteilnehmer die Barrikaden mit bloßen Händen und besetzten den Platz ein zweites Mal.

Der Protest gegen das Kernkraftwerk Wyhl war in erster Linie getragen von Bauern, Winzern und ländlichen Honoratioren wie Apothekern, Kaufleuten, Bäckern, Handwerkern sowie deren Frauen.

Auch hier wie überall dort, wo Menschen ihre Sache in die eigenen Hände nehmen und die staatliche Bevormundung und Gängelung abschütteln, entfaltete sich eine kreative Kultur und Organisation.

Die Besetzer bauten ein zentrales Rundhaus und mehrere Hütten, in denen sie vorübergehend lebten. Im Rundhaus wurden basisdemokratische Besetzerversammlungen und Pressekonferenzen abgehalten. Es fanden Kulturveranstaltungen, Protestsongkonzerte und selbst organisierte Lehrgänge zu politischen und kerntechnischen Themen sowie zu Fragen des Umweltschutzes statt. Hier wurde die Volkshochschule Wyhler Wald gegründet, die 1985 zur 10-jährigen Platzbesetzung ihr 72. Programm schrieb.

Es folgten Demonstrationen, Boykottaktionen, Sternfahrten, langwierige Gerichtsverfahren, Eingaben, Unterschriftensammlungen, bis die Landesregierung im Jahr 1983 das Projekt wegen fehlender Durchsetzbarkeit zu Grabe trug. Wenn es alle diese Aktivitäten nicht gegeben hätte, gäbe es heute eine weitere verseuchte Region in der Bundesrepublik, könnten die Kaiserstühler Winzer ihren verstrahlten Wein allein trinken, würde eine weitere Atomruine in der Landschaft stehen.

Genauere Informationen sind hier zu finden: (Einführung Photo: David gegen Goliath im Kampf um die Erhaltung der Umwelt? Räumung des von Kernkraftgegnern besetzten Bauplatzes für ein Kraftwerk in Wyhl am Kaiserstuhl, 20. 2. 1975 / Bayerische Staatsbibliothek (BSB, München) und auch hier: (AKW – KKW – Wyhl Chronik: 40 Jahre! Widerstand im Wyhler Wald, in Kaiseraugst, Marckolsheim und Gerstheim)

Wyhl markierte den Auftakt einer Serie von Antiatomkraftprotesten mit erheblicher Breitenwirkung.

Brokdorf

Am 30.10.1976 begann der bisher größte Kampf gegen ein Atomkraftwerk.

Wenige Tage zuvor hatte die Atomkraftwerks-Betreiberfirma Nordwestdeutsche Kernkraftwerks AG (NWK) ein Areal am Rande des schleswig-holsteinischen Dorfes Brokdorf in der Wilster Marsch in einer Nacht- und Nebel-Aktion gekapert. Werkschützer sicherten danach das Gelände rund um die Wettern – wie die natürlichen Wassergräben heißen – mit Reizgassprüh-Geräten und Nato-Stacheldraht. (Das Symbol Brokdorf – taz.de)

Die Kernkraftgegner wurden an diesem 30.10.76 weit vor dem Bauplatz in der Nachbargemeinde Wewelsfleth gestoppt. Über Straßen, Schleichwege und Wiesen entlang der Wettern kamen ca. 8.000 Menschen nach kilometerlangen Märschen an ihr Ziel.

Die Zäune wurden mit Drahtscheren aufgeschnitten, Bauern und Anwohner warfen Teppiche auf die Stacheldraht-Barrieren. Andere gruben Leitplanken der NWK-Stichstraße aus dem feuchten Boden, um sie zerkleinert als Brücken über die Wettern zu nutzen. Werkschützer und Polizisten versuchten mit Reizgassprüh-Geräten die Demonstranten abzudrängen. Vergeblich. Bei Einbruch der Dunkelheit war ein großer Teil des Bauplatzes am Elbdeich besetzt!

Nur eine eiligst aufgebaute Stacheldraht-Barriere zu den NWK-Unterkünften und dem Polizei-Areal quer über das Gelände verhinderten die gesamte Besetzung des Platzes. Matratzen und Verpflegung für die zahlreichen Platzbesetzer wurden herangeschafft. Sogar Pastoren im Talar waren mit dabei. Teile der Demonstranten hatten nur eine symbolische Besetzung des Platzes geplant. Sie waren unbewaffnet, weigerten sich aber, den Platz zu räumen. Daraufhin wurden die Knüppel freigegeben.

Es begann ein exzessiver Knüppel- und Reizgas-Einsatz. Wasserwerfer räumten die Straßen, schossen auf dem Platz mit Reizgas-Wasser über die Stacheldraht-Barrieren in die Menge. Es gab viele Verletzte. Das Bauernhaus des Ehepaares Reimers wurde zum Lazarett umfunktioniert. Frau Reimers erinnert sich an 300 Verletzte, die die Nacht über versorgt werden mussten. Pastor Friedrich Bode: „Also, das fand ich pervers, absolut pervers, dass Menschen, die sich doch für eine lebenswerte Zukunft einsetzen, so von der Polizei bearbeitet werden und zwar im Auftrage der Politik.“ (Der Brokdorf-Komplex_130129-der-brokdorf-komplex-kampfhandlungen-in-der-wilster-marsch.media.eff51ca73c52ecc8cf25848762da380d.pdf)

Tags darauf demonstrierten erneut 4.000 Menschen vor dem geplanten AKW Brokdorf. Diesmal gegen die Polizeiwillkür. Der Bürgermeister der Nachbargemeinde Wewelsfleth, Eckhard Sachse forderte zum Widerstand auf. Der Brokdorfer Bürgermeister Eckhard Block hatte sich für eine NWK-Spende für ein Schwimmbad seinen Widerstand abkaufen lassen.

Allein in Hamburg gründeten sich nach den Ereignissen des 30. Oktobers innerhalb weniger Tage mehr als 30 Bürgerinitiativen. Die örtliche Bürgerinitiative Unterelbe (BUU) entwickelte sich in der Elbregion zum Dachverband und an der Weser entstanden die Bremer Bürgerinitiativen gegen Atomanlagen (BBA).

Bereits am 13. November 1976 wurde die Besetzung des Bauplatzes erneut versucht. 45.000 Menschen versammelten sich am Bauplatz unter dem Motto: „Der Bauplatz muss wieder zur Wiese werden.“ Jetzt beteiligten sich auch revolutionäre Organisationen an der Demonstration: Kommunistischer Bund (KB), Kommunistischer Bund Westdeutschland (KBW) sowie die KPD/AO und die KPD/ML. Die waren bei der Bauplatzbesetzung am 30.10. noch nicht dabei, was aber von interessierter Seite, z.B. der Springer-Presse behauptet wurde, um gegen die unbotmäßigen Besetzer besser hetzen zu können. Sogar die Zeit stellte diese Behauptung noch am 6.02.1981 auf. (Brokdorf-Chronik: Der siebenjährige Krieg | ZEIT ONLINE)

Aber was in Wyhl noch möglich war, ging hier nicht. Die willfährige CDU-Landesregierung Schleswig-Holstein unter Führung von Gerhard Stoltenberg wollte den Atommeiler unbedingt durchsetzen. Mit allen Mitteln:

Polizei wurde aus dem gesamten Bundesgebiet zusammengezogen und riegelte die Wilster Marsch in einem Umkreis von acht Kilometern ab. 20 Panzerwagen und Wasserwerfer standen bereit. Der Wassergraben wurde auf acht Meter erweitert und zusätzlich ein Zaun aus Baustahlgitter errichtet.

Es gab eine stundenlange Schlacht, die es in der Intensität noch nicht gegeben hatte. Tränengasgranaten und Rauchbomben schossen den Demonstranten entgegen. Die warfen die Granaten in die Reihen der Polizei zurück. Steine flogen gegen Wasserwerfer und Polizei. Die wiederum warfen die Steine zurück. Brücken wurden über die Wassergräben geschlagen, der NATO-Stacheldraht beiseite geräumt und schließlich auch der Zaun durchbrochen. Einige Wasserwerfer wurden geentert und manövrierunfähig gemacht. Alles unter massivem Tränengaseinsatz der Polizei. Aus dem Bericht der Polizeiführung: „Den Abwurf von Tränengaswurfkörpern aus Hubschraubern in Fächerform auf rückwärtige Störer kommt eine erhebliche Bedeutung zu… Diese Maßnahme war außerordentlich wirkungsvoll, denn die hier verweilenden Personen hatten keine besonderen Schutzmasken gegen Tränengas und lösten sich sofort auf.“ (Der Brokdorf-Komplex_130129 – der-brokdorf-komplex-kampfhandlungen-in-der-wilster-marsch.media.eff51ca73c52ecc8cf25848762da380d.pdf ). Im Klartext: Die Polizei ging vorzugsweise gegen ungeschützte, nicht an der Auseinandersetzung teilnehmenden Demonstranten und Zuschauer vor und setzte deren Gesundheit aufs Spiel für die Durchsetzung der Atomkraft, die selbst auch wieder katastrophale Auswirkungen auf Leben und Gesundheit der Bevölkerung hatte und immer noch hat.

Aufgrund der polizeilichen Übermacht zogen sich die Demonstranten zurück. Der Rauch der Tränengas-Schwaden hing noch Tage über der Wilster Marsch.

Es folgt eine weitere Protestwelle der Anti-Atom-Bewegung am 19. Februar 1977. Da es im Vorfeld Differenzen über die richtige Strategie gegeben hatte, fanden 2 Demonstrationen statt.

Tag und Nacht wurde vor dem 19.2. in endlosen Kolonnen ein massives Polizei- und Grenzschutz-aufgebot, das größte seit Bestehen der Bundesrepublik, in die Wilster Marsch gebracht. Eine ganze Bürgerkriegsarmee wurde aufgeboten: Hubschrauberstaffeln, Wasserschutzpolizei, Kolonnen von Schützenpanzern und Wasserwerfern, Gefangenentransportkommandos, Reiter- und Hundestaffeln. Die Bundeswehr, Krankenhäuser und Gefängnisse wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Man rechnete mit Schwerverletzten und Toten. Brokdorf wurde in eine Festung verwandelt.

Was geschah?

Jeweils etwa 40.000 Menschen reisten zu den Kundgebungen nach Wilster und in die Kreisstadt Itzehoe. Mehr passierte nicht. In die aufgestellte Falle wollten die Demonstranten doch nicht tappen.

Die Massenproteste zeigten Wirkung: Die Verwaltungsgerichte verhängten einen Baustopp für das AKW Brokdorf.

Nachdem der Baustopp in Brokdorf aufgehoben worden war, kam es im Februar 1981 zur bis dahin größten Demonstration. Wochenlang fand in den Medien eine enorme Hetze statt, wurde vor Gewalttätern und Chaoten gewarnt und die Demonstration schließlich verboten. Dennoch zogen über 100.000 Menschen bei Minus 10 Grad und eisigem Wind und allen massiven Polizeisperren zum Trotz am 28. Februar 1981 in Richtung Bauplatz. Das Demonstrationsverbot wurde später Gegenstand des Brokdorf-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts. Das Gericht stellte fest, dass das Verbot der Demonstration verfassungswidrig gewesen war.

Unterdessen wurde in Brokdorf weiter gebaut. Angesichts der wachsenden Betonhülle brach der Widerstand zusammen.

Im Juni 1986 flackerte der Widerstand wieder auf. Ein breites Bündnis von Organisationen und Initiativen rief für den 7. Juni 1986 zu Demonstrationen in Wackersdorf und am fast fertiggestellten AKW Brokdorf auf. Jeweils 40.000 Menschen beteiligten sich an den Demonstrationen. Die Polizei setzte auf Eskalation. Sie ging getreu den Aussprüchen des Bremer Polizeipräsidenten Erich von Bock und Polach vor: „Draufhauen, draufhauen, nachsetzen!“ und seines SPD-Kollegen aus Frankfurt Rudi Arndt: „Wenn sich mir einer in den Weg stellt, marschier‘ ich über den weg!“

Mit massiven Sicherheitskontrollen wurde in einem Ring rund um Brokdorf die Anfahrt der AKW-Gegner gestoppt, stundenlang Busse und Fahrzeuge kontrolliert. Viele Menschen erreichten die Kundgebung am AKW gar nicht erst. Die Anfahrt des Hamburger Konvois, an dem sich 10.000 Menschen beteiligten, wurde bei Kleve brutal gestoppt. Zahlreiche PKWs wurden von der Polizei demoliert, die Insassen verprügelt. Am AKW Brokdorf ging die Polizei gegen Kundgebungsteilnehmer vor. Und wie:

„Aufzeichnungen einzelner Arztpraxen, der Sanistationen und uns vorliegende Atteste sprechen eine deutliche Sprache: Gebrochene Schulterblätter, zersplitterte Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenke, Prellungen und Platzwunden an Hinterköpfen und Rücken und Nierenprellungen sind alles Verletzungsbilder, die durch Knüppelschläge auf fliehende, am Boden liegende oder sich schützende Menschen entstehen. Die Arztberichte entlarven die Polizeipropaganda: nicht gegen angeblich frontal angreifende Chaoten verteidigt sich die Staatsmacht, sondern greift Menschen aus einer Kundgebung heraus an, verfolgt sie und schlägt sie von hinten zusammen.“ (Brokdorf Kleve Hamburg: Saniausschuss)

Im Bericht des Saniausschusses werden Beispiele des Polizeiterrors anschaulich beschrieben. ZB.: „In wilder Flucht durch die parkenden Autos des Hamburger Konvois gerät eine 22jährige Demonstrantin ins Straucheln. Sie stürzt und bleibt mit ihrem rechten Arm zwischen zwei Karosserien hängen. Das nachsetzende Sondereinsatzkommando rollt über sie hinweg, ein Schlag trifft den Ellenbogen ihres eingeklemmten Armes – komplizierter Bruch.“ (Brokdorf Kleve Hamburg: Saniausschuss)

Die Empörung angesichts der Polizei-Brutalität war groß. Bereits für den nächsten Tag verabredeten sich AKW-Gegner zu einer Demonstration gegen die Polizei-Gewalt auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg. Rund 1000 Menschen versammelten sich an diesem 8. Juni. Gegen 12 Uhr wurden sie noch auf dem Sammelort von der Polizei eingekesselt. Insgesamt 13 Stunden lang wurden sie festgehalten, nicht mal der Gang zur Toilette wurde ihnen erlaubt. Später wurde dieser Einsatz vom Hamburger Verwaltungsgericht als vollkommen rechtswidrig bezeichnet, den Betroffenen ein Schadensersatz von 200 DM zugesprochen. Den Bericht über den Polizeiterror und die entwürdigende und erniedrigende Behandlung durch die Polizei kann man hier nachlesen: (Brokdorf Kleve Hamburg: Hamburg Heiligengeistfeld 8. Juni 1986)

Kalkar

Im April 1973 wurde in Kalkar am Niederrhein (nahe Xanten) mit dem Bau des Schnellen Brüters SNR 300 begonnen. SNR steht für Schneller Natriumgekühlter Reaktor. Dieser Reaktortyp sollte ein Perpetuum mobile werden. Er sollte nicht nur Energie abgeben, sondern die abgegebene Energie und mehr durch Erzeugung von spaltbarem Material in Form von Plutonium wieder herstellen (ausbrüten). In Frankreich gab es schon einen Brüter, der dem deutschen überlegen und weit voraus war. Aber der Phenix produzierte gar kein zusätzliches Plutonium. Was an Überschuss aus dem Reaktor kam, ging im Wiederaufarbeitungsprozess verloren.

Der Vater des Schnellen Brüters war der Physiker Wolf Häfele. In dem SPIEGEL-Artikel (Der Koloß von Kalkar – DER SPIEGEL 43/1981) wird deutlich, mit welchem Größenwahn Häfele und seine Mitstreiter (einer davon war der Veteran der Atombombenforschung Karl Wirtz aus der Nazi-Zeit) an die äußerst gefährliche Technologie herangegangen sind. Die Kühlung eines Reaktors durch das flüssige Metall Natrium ist ungleich anspruchsvoller und gefährlicher als mit herkömmlichem Wasser. Bei der Berührung von Natrium mit Wasser kann der dabei entstehende Wasserstoff explodieren und sich entzünden. Und so kamen immer neue Sicherheitsauflagen dazu und die Kosten für den SNR 300 explodierten.

Der Schnelle Brüter war ein Geschenk des Staates an vor allen Dingen einen Energie-Konzern, die RWE. Für den Betrieb wurde die Schnell-Brüter-Kernkraftwerksgesellschaft mbH (SBK) gegründet. Anteilseigner: 70 % RWE, 15 % die belgische Synatom SA in Brüssel und 15 % die holländische N.V. Samenwerkende Elekritciteits-Productiebedrijven in Arnheim (EUR-Lex – 31975D0328 – EN – EUR-Lex). Mehr als 90 % der Baukosten, die 1965 noch auf 310 Millionen DM und 1972 auf 1,5 Milliarden DM geschätzt wurden, sollten mit 70 % von der Bundesrepublik und zu jeweils 15 % von Belgien und Holland übernommen werden. Der Beitrag der SBK sollte auf 125 Millionen DM begrenzt sein. Die Gesamtkosten erhöhten sich aber im Laufe der Zeit auf sagenhafte 7 bis 8 Milliarden DM. Kurt Rudnizki, Chemiker und Wissenschaftsjournalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sah das schon 1966 voraus: „Der Natriumbrüter – eine Milliarden-Fehlinvestition!“ (Kalkar – wer rettet den Pleite-Brüter? | ZEIT ONLINE).

Der Bauträger des Schnellen Brüters war die Siemens-Tochter Interatom. Deren Chef, der Siemens-Manager Klaus Traube wandelte sich im Lauf der Zeit unter dem Eindruck der breiten Proteste, von einem Verfechter der Atomkraft zu einem vehementen Kritiker der Atomwirtschaft. Er wurde deshalb unter dem völlig unhaltbaren Vorwurf, Kontakte zur RAF zu haben, entlassen.

Der Bau des Schnellen Brüters verlief natürlich nicht ohne großartigen Widerstand. Bauern machten mobil. Einer davon hat sich zur Symbolfigur dieses Widerstands entwickelt, der Bauer Josef Maas. Ab 1972 führte er als Hauptkläger einen fast vierzehn Jahre dauernden Rechtsstreit gegen den Bau, der 1,5 Millionen DM kostete, was aber zum größten Teil durch Spenden abgedeckt wurde.

In der Nacht zum 24. September 1977 machten sich Zehntausende auf den Weg nach Kalkar. Sie waren massivsten Behinderungen durch die Polizei ausgesetzt. Als die Teilnehmer des Hamburger Konvois in eine Polizeisperre im niedersächsischen Sittensen fahren, stehen sie nicht nur Polizisten ausgerüstet mit Knüppel und Wasserwerfern gegenüber, sondern blicken auf dem mit Scheinwerfer erleuchteten abgelegenen Terrain in Maschinenpistolenläufe. Hunderte werden festgenommen, in „grünen Minnas“ in abgelegene Hallen transportiert und erkennungsdienstlich nach den Normen der RAF-Fahndung behandelt. Dutzende von BUU-Bussen müssen auf der Autobahn wenden, kehren mit Tausenden um. (Das Symbol Brokdorf – taz.de) Im Klartext: Atomkraftgegner wurden mithilfe des Paragraphen 129a (Bildung terroristischer Vereinigungen) wie Staatsfeinde behandelt. Die Ablehnung der Atompolitik und der Profite aus dem Kernkraftgeschäft für Siemens und RWE war für den Staat ein Staatsverbrechen.

8.000 Polizisten, auch Grenzschutzbeamte, waren in und um Kalkar zusammengezogen worden. Alle Wagen und Busse wurden durchsucht, die Menschen abgetastet. Verdächtige Gegenstände wurden beschlagnahmt, auch Wagenheber und Abschleppseile. Es gab kilometerlange Staus. Viele drehten wieder um. Ein Novum in der Geschichte der BRD: Auch ein Zug zwischen Xanten und Kalkar wurde angehalten. Die Reisenden mussten den Zug verlassen, sich an den Waggons aufstellen und sich abtasten lassen. Ebenso wurde ein Kamerateam des WDR am frühen Morgen durch die Maßnahmen betroffen: 20 km vor Kalkar passierten sie die vierte Polizeikontrolle inklusive Durchsuchung (Kein Atom in NRW – Der Kampf um Kalkar – YouTube). Und auch der Bauer Maas durfte seinen Hof zuerst nicht verlassen. Die Strategie der Polizei war darauf abgestellt, die Atomkraftgegner zu provozieren und zu Gewaltausbrüchen zu verleiten. Die Demonstranten ließen sich aber nicht provozieren. 40.000 hatten am späten Nachmittag den Marktplatz von Kalkar erreicht.

Ein Schmankerl am Rande: Der Baugrund für das Kernkraftwerk gehörte teilweise der katholischen Kirche. Der Kirchenvorstand, zu dem auch der Bauer Maas gehörte, wollte aber nicht verkaufen. Also setzte das bischöfliche Vikariat in Münster kurzerhand den Kirchenvorstand ab und setzte einen neuen Vorstand ein, der den Verkauf dann auch brav abnickte. 1,1 Millionen DM soll der Judaslohn betragen haben. (Zum Preis: Kernenergie: Bauer Maas gibt auf | ZEIT ONLINE)

Die Palette der Atomkraftbefürworter reichte bis zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Der Vorsitzende der IG Bergbau und Energie Adolf Schmidt war uneingeschränkt für den Einsatz von Atomkraft und hetzte gegen die AKW-Gegner (Kein Atom in NRW – Der Kampf um Kalkar – YouTube).

1979 hielt die Welt den Atem an. Im nordamerikanischen Harrisburg kam es fast zu einem Supergau in dem dortigen Kernkraftwerk. Was in Harrisburg noch gerade so verhindert werden konnte, geschah 1986 im ukrainischen Tschernobyl. Der Reaktor explodierte und das als Moderator eingesetzte Graphit fing Feuer. Innerhalb der ersten zehn Tage nach der Explosion wurden mehrere Trillionen Becquerel freigesetzt. Die in die Atmosphäre gelangten radioaktiven Stoffe kontaminierten hauptsächlich die Region nordöstlich von Tschernobyl sowie viele europäischen Länder. Wie der Reaktorblock bekam auch die Front der Atomkraftbefürworter große Risse. Der Bundesparteitag der SPD beschloss 1986 unter dem Eindruck der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl den Ausstieg aus der Kernenergie.

Der Schnelle Brüter wurde 1985 fertiggestellt, die Brennstäbe allerdings nicht eingesetzt, weil die nordrhein-westfälische Landesregierung die Betriebsgenehmigung verweigerte. Ab dem Zeitpunkt der Fertigstellung fielen pro Jahr 105 Millionen DM (heute ca. 93 Millionen €) Betriebskosten an, weil das flüssige Natrium warm gehalten werden musste (Kernkraftwerk Kalkar – Wikipedia).

1991 kam das endgültige Aus für den Brüter in Kalkar. Der zwanzigjährige Kampf hatte zum Erfolg geführt. Der Vogel, der nie gebrütet hatte, und den Steuerzahler 7 bis 8 Milliarden DM gekostet hatte, wurde an einen holländischen Investor unbestätigten Meldungen zufolge für 2,5 Millionen € verkauft, der daraus einen Vergnügungspark machte. Nur Bauer Maas konnte den Erfolg nicht vor Ort feiern. Der jahrelange psychische Druck, der hohe Zeitaufwand und die ungeheure Energie, die er in den Kampf hineingesteckt hatte, hatten ihn gesundheitlich und nervlich angegriffen. Auch plagten ihn Existenzsorgen. Seine Hausbanken drohten immer wieder damit, Kredite zu verweigern, und er bekam Schwierigkeiten mit Lieferanten und Abnehmern. Er verkaufte sein Grundstück an die KWU und zog 1985 in eine andere Gemeinde. (Kernenergie: Bauer Maas gibt auf | ZEIT ONLINE)

Auch hier hat die Polit-Rock-Gruppe Die Schmetterlinge ein hervorragendes, sehr hörenswertes Lied gemacht. (Schmetterlinge – Hände über Hönnepel – YouTube)

Die Atomkraftgegner hatten recht. Die Kernkraftenergie ist eine tödliche Technologie. Die AKW-Gegner wollten die Gesundheit der Bevölkerung schützen.

Der Staat war im Unrecht. Er verteidigte das Atommonopol von Siemens und die daraus resultierenden Riesen-Profite plus unübersehbare gesundheitliche Schäden gegen die Bevölkerung. Diese harte Allianz von Staat und Kapital findet man überall, wenn man nur die Oberfläche wegkratzt, Deshalb kann man auch mit Fug und Recht von der Polizei in diesen harten Auseinandersetzungen als von der Siemens-Knüppelgarde reden.

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