11. Reaktion des Staates auf die Klassenkämpfe auf gesetzlicher Ebene
Der bürgerliche Staat tritt seinen Bürgern in den 70er- und 80er-Jahren als Polizeistaat entgegen. Die Auseinandersetzungen um Fahrpreiserhöhungen und Atomkraftwerke nehmen bürgerkriegsähnliche Ausmaße an. Der Staat sieht seine Existenz als gefährdet an. Er lässt sein demokratisches Mäntelchen fallen. Bestehende Gesetze werden verschärft, bzw. es werden neue, schärfere Gesetze geschaffen. (siehe unten)
Widerständigen Menschen wird das Leben zur Hölle gemacht. Die Polizei geht mit zunehmender Härte und Rücksichtslosigkeit gegen renitente und sich wehrende Bürger vor. Dazu sitzt ihr die Pistole locker im Halfter und der Finger am Abzug krümmt sich schnell. Sich wehrende Leute werden mit Prozessen überzogen. In vielen Menschen kommt ein Gefühl der Hilflosigkeit auf gegenüber der gewalttätigen Macht des Staates. Dieses Gefühl und der zunehmende Verfolgungsdruck verleitet einige Kleinbürger dazu, in den Untergrund zu gehen und dort den Kampf mit individueller Gewalt weiter zu führen. Der Staat schafft sich auf diese Weise seine Terroristen selber.
Notstandsgesetze
Am 11.5.1968 zog ein Sternmarsch von Sechzigtausend (nach Angaben der APO) gegen die Notstandsgesetze durch die damalige Bundeshauptstadt Bonn unter dem Motto: „Treibt Bonn den Notstand aus!“
Mit diesem Gesetz können in einem Notfall, also auch in revolutionären Kämpfen, Bundesgrenzschutz und Bundeswehr zur Niederschlagung im Inland eingesetzt wird.
Ausländergesetz
15.000 demonstrierten im Oktober 1972 in Dortmund gegen das Ausländergesetz und die Verfolgung ausländischer Kollegen. Das Gesetz ist in seinen einzelnen Vorschriften so weitmaschig und „liberal“ abgefasst, dass es die Ausländerbehörden in „der Praxis auch auf die restriktivste Weise auslegen und handhaben können“. („Der Araber – dem ist nicht zu trauen“ – DER SPIEGEL 39/1972)
„Ein gummihaft manipulierbares Ausländerrecht gibt den Türken wenig, der Behördenwillkür viele Rechte. So müssen Aufenthaltsgenehmigungen für Ausländer jedes Jahr erneuert werden. Erst nach fünf Jahren kann — muß aber nicht — ein Anspruch auf Dauer-Aufenthalt entstehen. Wer keine neue Genehmigung erhält, wird ausgewiesen. „Rückfall in den Polizeistaat“ nannte Ausländerexperte Fritz Franz vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg das Ausländergesetz.“ (TÜRKEN-STREIK: Faden gerissen – DER SPIEGEL 37/1973)
§ 129a, Bildung einer kriminellen Vereinigung
1976 wurde von der SPD/FDP-Regierung mit Bundeskanzler Helmut Schmidt der § 129a in das Strafgesetzbuch (StGB) eingefügt.
„Der Wortlaut des Paragraphen 129a war und ist umfangreich und gewollt unscharf. … Verfolgt wird, wer Gründer oder Mitglied einer »terroristischen Vereinigung« ist, deren Tätigkeit darauf gerichtet sein soll, schwere Straftaten wie Mord, Entführungen oder Sprengstoffdelikte zu begehen. Bestraft wurde nach dem Gesetzeswortlaut von 1976 auch, wer eine solche Vereinigung nur unterstützt oder für sie wirbt.
Nirgendwo findet sich eine Definition von »Terrorismus«. Wer wegen Paragraph 129a vor Gericht steht, dem muß keine konkrete (strafbare) Handlung nachgewiesen werden. Verurteilt werden kann er wegen eines »Organisationsdelikts«. Wer als Mitglied der Vereinigung angesehen wird, kann für sämtliche ihr zugeschriebenen Taten zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden. Was in der Theorie des bürgerlichen Rechtsstaats Tatstrafrecht hieß, wird nun zum praktischen Gesinnungsstrafrecht.“ (Der Terror-Paragraph | Einstellung der §129(a)-Verfahren – sofort!) Aus dem Artikel in der Tageszeitung junge Welt vom 18.08.2006 von Rechtsanwalt Heinz Jürgen Schneider.
Es gab von 1976 bis 2006 nach Angaben der Bundesregierung vom 31.10.2007 auf eine Anfrage der Linken nur 189 Anklagen aufgrund des § 129a StGB. Drei Angeklagte wurden freigesprochen. (1606892 – 1606892.pdf).
Offensichtlich kam es also nicht auf die Anzahl der Verurteilungen an. Warum also dieser Paragraph? Auf der einen Seite ging es natürlich um die abschreckende Wirkung. Widerständige Menschen sollten davon abgeschreckt werden, sich zu engagieren, z.B. gegen Atomkraft. Weiter unten wird ausgeführt, dass 1986 der Vorwurf der terroristischen Vereinigung auch auf Kernkraftgegner ausgeweitet wurde.
Auf der anderen Seite wurde dieser Paragraph zur Bespitzelung gebraucht. Damit konnte man ganz legal Verbindungen der Menschen untereinander ausforschen.
„Nach der Strafprozeßordnung besteht bei Ermittlungen der Sicherheitsorgane nach Paragraph 129a die Möglichkeit zu großflächiger Telekommunikationsüberwachung, zu Razzien in Wohnblocks, zur Errichtung von Kontrollstellen im Straßenverkehr und auf öffentlichen Plätzen, einschließlich der Möglichkeit zur Durchsuchung auch von Unverdächtigen sowie zur Anordnung der sogenannten Schleppnetzfahndung mit Massenspeicherung von Daten….
Eine Zäsur gab es auch im Haftrecht. Bei Vorliegen eines dringenden Tatverdachts nach Paragraph 129a darf Untersuchungshaft verhängt werden, ohne daß ein Haftgrund wie Fluchtgefahr vorliegen muß. Zu weiteren Eingriffen gehört auch der strenge Vollzug dieser Haft. Der Schriftverkehr zwischen Einsitzendem und seinem Rechtsbeistand wird richterlich überwacht. Alle Anwaltsgespräche finden mit einer Trennscheibe statt, Privatbesuche mit zuhörenden Beamten. Die Gefangenen werden innerhalb der Anstalt separiert und gern auch in Anstalten weitab von Freunden und Angehörigen inhaftiert. Isolationshaft wird zum Unwort ganzer Jahre….
Durchschnittlich rund 200 Ermittlungsverfahren gab es pro Jahr. Die absolute Mehrzahl der Verfahren gehen um »Unterstützen« und »Werben«, nicht um Mitgliedschaft. Anhand der offiziellen Zahlen läßt sich feststellen, daß durchschnittlich rund 95 Prozent (aktuell fast 97 Prozent) der Ermittlungsverfahren nicht mit einer Anklage und einem Prozeß enden, sondern – oft nach langer Zeit – eingestellt werden. Die »Anklagequote« liegt üblicherweise aber nicht bei fünf, sondern bei fast 50 Prozent. Das macht den Charakter des 129a als »Ausforschungsparagraph« deutlich.“ (Der Terror-Paragraph | Einstellung der §129(a)-Verfahren – sofort!)
1986 verschärfte die CDU/CSU/FDP-Regierung mit Bundeskanzler Helmut Kohl den § 129 StGB. Diese Verschärfung ermöglichte es, „den Vorwurf einer terroristischen Vereinigung auch gegen Kernkraftgegner und somit gegen unliebsame Demonstranten zu wenden, die öffentliche Einrichtungen sabotierten oder blockierten. Neben der Strafmaßverschärfung von 5 auf 10 Jahre und der Regelung, daß Rädelsführer nicht unter drei Jahren bestraft werden durften (somit fiel die Bewährungsstrafe weg), wurden weitere gemeingefährliche Delikte in den Katalog einer terroristischen Vereinigung aufgenommen. Hierzu zählten der gefährliche Eingriff in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr gemäß § 315 Abs. 1 StGB und die Störung öffentlicher Betriebe nach § 316 Abs. 1 oder 3 StGB.“ (Einführung Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Bundesrechtsanwaltsordnung und des Strafvollzugsgesetzes [§ 129 a StGB Bildung terroristischer Vereinigungen, Anti-Terror-Gesetz], 18. Augus)
Berufsverbote
„Am 28. Januar 1972 beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz der Länder unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Willi Brandt den sog. „Radikalenerlass“. Daraufhin wurden etwa 3.5 Millionen BewerberInnen und Mitglieder des Öffentlichen Dienstes vom „Verfassungsschutz“ auf ihre politische „Zuverlässigkeit“ durchleuchtet. In der Folge kam es zu 11.000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Der „Radikalenerlass“ führte zum faktischen Berufsverbot für Tausende von Menschen, die als Lehrerinnen und Lehrer, in der Sozialarbeit, als Briefträger, Lokführer oder in der Rechtspflege tätig waren oder sich auf solche Berufe vorbereiteten oder bewarben. Im Jahr 1977 wurde auch Winfried Kretschmann, heute Ministerpräsident von Baden-Württemberg als angeblichem „Linksradikalen“ zunächst die Einstellung in den Schuldienst verweigert. Der Unterstützung durch eine breite Solidaritätsbewegung hat er es zu verdanken, dass sein Berufsverbot verhindert werden und er seinen erlernten Beruf als Lehrer doch noch ausüben konnte, ehe er später Politiker wurde.“ (Willkommen – Berufsverbote)
Das hinderte Kretschmann aber nicht daran, die Aufarbeitung der Berufsverbotepraxis in Baden-Württemberg abzulehnen. 2004 wurde der Heidelberger Realschullehrer Michael Csaszkosczy von den Bundesländern Baden-Württemberg und Hessen mit Berufsverbot belegt, weil er sich in antifaschistischen Gruppen engagiert hatte.
Das Gegenteil passierte mit den Faschisten. So waren zum Beispiel „von 1004 Personen mit Berufsverboten nur 0,7 % Mitglieder der NPD gewesen. Vergleichsweise waren 41.4 % dieser Opfer des „Radikalenerlasses“ Mitglieder der DKP.“ (Histor, Manfred: Willy Brandts vergessene Opfer, 2. Aufl., 1992, Freiburg, S. 81)
In der unmittelbaren Nachkriegszeit nach 1945 rückten ehemalige NS-Verfolgte oder Angehörige des Widerstands in Spitzenpositionen auf. Bereits im September 1950 hatte Adenauer die Berufsverbote gegen ehemalige Bedienstete des Dritten Reiches und andere NS-Funktionseliten aufgehoben. Nun mussten sie (die NS-Verfolgten, d. Verf.) miterleben, wie sämtliche „Funktionseliten unterhalb der Reichsführer-Ebene“ rehabilitiert wurden. Im Handumdrehen verdrängten diese „49er“ die „45er“ (Radikalenerlass von 1972: Nazis rein, Linke raus | ZEIT ONLINE).
„Die existentielle Bedrohung durch die Verweigerung des erlernten oder bereits ausgeübten Berufes war eine Maßnahme der Unterdrückung außerparlamentarischer Bewegungen insgesamt. Statt Zivilcourage wurde Duckmäusertum gefördert.“
„Keinem einzigen der Tausenden von Betroffenen ist jemals von einem Gericht eine konkrete Verfehlung vorgeworfen worden. Trotzdem haben sich die Behörden bei keiner/m der Betroffenen jemals entschuldigt, ist niemand offiziell rehabilitiert worden. Viele leben heute im Alter in materieller Not, weil ihre berufliche Existenz damals zerstört wurde.“ (Willkommen – Berufsverbote)