Die Zeit kurz vor der Reise war wieder ziemlich stressig. Ein Arzttermin jagte den nächsten. Zuerst die Zähne, dann das Knie und dann funkte auch noch die Haut dazwischen. Ein paar Tage vorher baute ich den neuen Fahrradträger auf die neue Anhängerkupplung. Irgendwann fand ich auch die richtige Stellung, an der der Träger einrastete. Als nächstes füllte ich den Wasserbehälter auf, schaltete wohlgemut die Wasserpumpe ein: Die Pumpe lief zwar hörbar, aber aus dem Wasserhahn kam nichts, noch nicht einmal heiße Luft. Ich baute den vorgeschalteten Filter aus. Der war aber nicht verstopft. Ich klopfte aufs Gehäuse der Wasserpumpe – nichts rührte sich. Ich demontierte den Zulauf und goss per Hand Wasser nach – nichts. Alles Tipps aus dem Internet.
Ich packte, ich räumte ein, ich rannte zum Arzt, ich versuchte, die Wasserpumpe zum Laufen zu bringen. Und so kam es, dass ich am Tag der Abfahrt reise- und auch sonst völlig fertig beim Ausbauer des Caravans vorfuhr. Der Kollege prüfte die Sache kurz, blies einmal kräftig in den Ansaugschlauch – und siehe da, es sprudelte wieder Wasser aus der Leitung. Manches kann so einfach sein: In der Trockenzeit der Winterperiode hatte sich ein Luftpolster gebildet. Diese Idee habe ich nicht im Internet gefunden.
Mein erster Stopp war der Campingplatz am Helene-See mit Bademöglichkeit, 10 km von Frankfurt/Oder entfernt. Lichter Kiefernwald, durch den auch die Sonne schien, wenn sie denn mal zwischen den Wolken hervorlugte. Ich verbrachte die Zeit erst mal mit Caravan-Putzen. Das WoMo stand vorher die ganze Zeit unter Birken und die hatten mein schönes Auto mit ihrem Blütenstaub völlig eingestäubt. Es war vergebene Liebsmüh‘, weil der Wind den Sandboden des Kiefernwaldes und des Strandes immer wieder durch die Luft wirbelte. Ich habe noch nie auf einem Campingplatz so viel Staub in der Luft gesehen. Und noch eine Sache war äußerst störend: Der Sandstrand des Helene-See konnte auch von anderen Besuchern gegen Zahlung eines kleinen Obolus benutzt werden. Und die zogen natürlich kleine Bars hinter sich her. Das Ätzende daran war, dass eine Bar die Umgebung mit Musik beschallte, von der aber nur die Bässe auf dem Campingplatz ankamen. Und so hörte man tagsüber immer ein gewisses Wummern im lichten Kiefernwald.
Die zweite Beschäftigung war das Flicken des Sicht- und Sonnenschutzes. Den hatte ich im tiefsten Winter gekauft zum Schutz gegen Schnee und Eis. Es war bannig kalt, als ich ihn anbringen wollte. Da die Folie aber nicht passte, schnitt ich sie mit vereisten Fingern an den entsprechenden Stellen ein, natürlich viel zu viel. Die Folie passte aber immer noch nicht, und ich nahm sie wieder ab für die Rumpelkammer. Jetzt also der zweite Versuch. Nun passt sie besser, allerdings nur bei wenig Wind zu benutzen.
Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Fahrrad zum Zahnarzt auf der anderen Seite der Oder in Slubice. In Polen sind die Zahnarztkosten noch erschwinglich, was man von Deutschland nicht behaupten kann. Es war erst mal nur ein Beratungstermin. Der Arzt schaute sich den Schlamassel an, regte sich auch ein bisschen darüber auf, dass er das Ganze nicht von Anfang an gemacht hat, und wollte mir einen Heil- und Kostenplan zusenden. Hat er auch gemacht und der ist nun mal sehr viel billiger.
Nachdem das Nützliche abgehakt war, konnte ich endlich zum angenehmen Teil übergehen. Ich schaute mich kurz in Slubice um, tauschte Euro in Zlotty, nahm den obligatorischen Cappuccino mit Kuchen zu mir, wechselte wieder auf die deutsche Seite und fuhr ganz gemächlich zum Helene-See zurück. Eingedenk der Tatsache, dass ich auf meiner ersten Wohnmobilreise ganz schön abgenommen hatte, schob ich mir noch zwischendurch ein Wildschweinrippchen für 9,40 € zwischen meine eigenen Rippen. Es war zwar schön zart, aber nicht unbedingt mein Geschmack. Am Campingplatz übermannte mich eine wohlige Müdigkeit, so dass ich nicht lange zu lesen brauchte, um einzuschlummern. Da ich aber sonst nachmittags nie schlafe, hatte ich danach dicke Klüsen (ich meine die Augen) und meine Lebensgeister wollten gar nicht so richtig wach werden.
Anderntags ließ ich es ruhig angehen. Erst schaute ich mich in Frankfurt/Oder um. Rathaus, Marienkirche, Insel Ziegenwerder. Nach dem Cappuccino und Kuchen auf polnischer Seite fuhr ich
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weiter mit dem Fahrrad auf der östlichen Seite der Oder flussabwärts. Urige Gegend. Fast naturbelassen und menschenleer. Nur einige wenige Angler und ebenso viele Kühe unterwegs. Ich fuhr bis Höhe Lebus und gedachte dort auf die deutsche Seite überzusetzen. Ging aber nicht. Es gab keine Möglichkeit. Der Hunger meldete sich lautstark. Es war schon halber zwei. Also zurück nach Slubice und dort ein Entrecote für 7 € verdrückt. Justamente fing dabei meine Verdauung ganz schön zu rumoren an. Ich konnte mich gerade noch aufs Klo retten und verbrachte dort erst mal ein geraumes Weilchen. Zeitchen würde Strittmatter sagen, den ich gerade las. Der Kuchen muss wohl nicht mehr ganz in Ordnung gewesen sein. Zwischen Frankfurt und dem Helene-See liegt eine schöne Steigung mit Serpentinen. Eine Motorrad-Gang fuhr diese Serpentinen mit Full-Speed hinauf und hinunter. Hinauf und hinunter brüllten sie an mir eifrig strampelnden Fahrradfahrer vorbei. Nervenkitzel. Kaum war ich auf dem Campingplatz angekommen, musste ich schon wieder aufs Klo. Eine Tasse mit Heilerde brachte aber alles wieder ins Lot. 50 km mit dem Fahrrad sind es an diesem Tag doch geworden.
Ein wie Suleika verhüllter Jugendlicher steuerte mich an, angefeuert von einer ganzen Bande Jugendlicher. Er bat aber ganz nett um einen Becher Spülmittel mit Speiseöl. Es sollte sein Junggesellenabschied werden. Na prost Mahlzeit! Hoffentlich hat der sich nicht den Magen genauso verrenkt. Zu dem Zeitpunkt wusste er aber noch nicht, was auf ihn zukommt.
Der nächste Tag, ein Sonntag, wurde der erste richtig heiße Tag im Jahr, an die 30 Grad. Ich entschloss mich spontan, nicht länger bei der schönen Helene zu bleiben, sondern in Richtung Norden loszufahren. Da ich aber noch eine ansehnliche Summe Bargeld für den Zahnarzt mitgenommen, aber nicht gebraucht hatte und Sonntags bei keiner Bank unterbringen konnte, bin ich auf der deutschen Seite hoch gefahren. Sicher ist sicher. Einige unschöne Geschichten liest man ja doch über das, was in Polen so alles passieren kann. Nur ein kurzer Abstecher nach Kostrzyn (Küstrin) zum Tanken, weil dort das Benzin billiger ist als in Deutschland. Die Festung Küstrin ist der Ort, an dem Friedrich Wilhelm I. von Preußen den Freund und Fluchthelfer seines ausgebüxten Sohnes Friedrich (des späteren Friedrich der Große, auch Alter Fritz genannt) Hans Hermann von Katte vor den Augen seines Sohnes enthaupten ließ.
Da ich die meiste Zeit nur Landstraße fuhr und hier eine Forelle, dort Kaffee und Friesentorte meinem Körper zugute kommen ließ, kam ich erst gegen 17 Uhr in Ückeritz an. Zwischendurch entwurzelte ich noch mit dem Heck einen Papierkorb und eine Leuchte an einem Parkplatz. Es sah jedenfalls so aus, als wäre ich das gewesen. Da aber an den Leuchten meines Fahrradträgers überhaupt kein Schaden zu sehen war, muss es wohl doch ein anderer vor mir gewesen sein.
Kaum angekommen, schmiss ich meinen erhitzten Körper in die Ostsee. Uaaah, war das eisekalt. Das hielt ich tatsächlich nur ein paar kurze Schwimmstöße durch. Danach noch eine Bockwurst verdrückt und dabei zugesehen, wie 2 Anfänger von 2 Erfahrenen in die Anfänge des Skatspiels eingeweiht wurden, mit deutschen Spielkarten, also Schelle, Eichel usw.
Am nächsten Tag hatte ich gar keine Lust aufzustehen. Ich hatte keine Energie, auch nicht zur Morgengymnastik. Da der Bäcker direkt auf dem Campingplatz ein paar Schritte von mir entfernt seine Brötchen verkaufte, kaufte ich mir zur Abwechslung ein Paar Goldene. Und dann ging die Sucherei nach einer Bank los. Es gibt dort in der Gegend nur noch die Sparkasse und die Volksbank, deren Netz immer mehr ausgedünnt, bzw. in Selbstbedienungsfilialen umgewandelt wird. Die Sparkasse in Hennigsdorf wollte für eine Bankeinzahlung bis 1.000 € auf ein fremdes Bankkonto 25 € Gebühren haben. Darüber sollte es dann 50 € kosten. Das war mir dann doch zu teuer. Und Einzahlungen am Automaten könnten sowieso nur die eigenen Kunden machen, auch nicht die einer anderen Sparkasse. Also völlig autistisch. Und das im Zeitalter der Globalisierung. Auf zur Volksbank in Ahlbeck. Da gab es nur noch besagten Selbstbedienungsladen. Ein Droschkenkutscher klärte mich dann über die miserablen Bankverhältnisse auf und schickte mich zur Volksbank in Bansin. Da würde noch ein Mensch hinter dem Schalter stehen. Das stimmte auch, aber die
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Volksbank wollte genauso hohe Gebühren haben. Da ließ ich das Vorhaben endgültig sein und fuhr mit dem hohen Bargeldbestand bei Swinemünde über die polnische Grenze.
Wie man sieht, hatte ich doch einigen Bammel vor der den Polen gern unterstellten Klauerei. Aber das war völlig unbegründet. Ich habe mich mit der Zeit ziemlich sicher dort gefühlt. Sicherer als z.B im Norden Italiens. Ein Pole auf dem Campingplatz in den Masuren lud sogar sein Smartphone im öffentlichen Waschraum auf, ohne daneben zu stehen. Das würde ich mir in Deutschland nicht trauen. Organisierte Banden gibt es überall. Aber die dürfen wohl nicht der Maßstab sein.
Es dauerte nicht lange, da führte mich das Navi ans Wasser. Keine Brücke weit und breit. Ja, spinnt denn das Navi mal wieder? Nein, es war der kürzeste Weg an der Ostsee entlang. Eine Fähre stand bereit, die PKW’s und LKW’s auf die andere Seite zu bringen. Oha, was mag das wohl wieder kosten? Viele Zlottys hatte ich nicht mehr im Geldbeutel. Doch Überraschung!! Die Fähre war kostenlos. Und das in einem kapitalistischen Land. Na bitte, geht doch: Nulltarif im Nahverkehr wird an einigen Orten dieser Welt praktiziert. Nur die reichen Länder dieser Welt können sich das natürlich nicht leisten. Die brauchen das Geld für irgendwelche Prestigeobjekte oder sonstige Milliardengräber. Da gibt es ja einige Beispiele in Deutschland. Nur für die Bedürfnisse der Masse der Bevölkerung ist kein Geld da. Angefangen vom kostenlosen öffentlichen Nahverkehr über die öffentliche Gesundheitsvorsorge hin zur Obdachlosenfürsorge und ganz profanen aber wichtigen Sachen wie kostenlosen öffentlichen Toiletten nebst Reinigungspersonal.
Und so fuhr ich auf manchmal guten, manchmal sehr buckeligen Landstraßen durch den schönen Naturpark Wollin, aß in Wiselka einen hervorragenden Sandasz (Zander) mit Kartoffelpüree und Rohkostsalat. Der Salat wurde aber nicht einfach aus der Dose auf den Teller gepappt, er wurde noch verfeinert. Einfach lecker. Mit Getränk bezahlte ich 43,40 Zlotty, also ca. 10 €. Da kann man doch nicht meckern. Andere Preise als letztes Jahr in Italien und Frankreich. Was mir hier allerdings gefehlt hat, ist die italienische Kaffeebarkultur. Die scheint in Europa wohl einzigartig zu sein.
Um 16 Uhr erreichte ich dann Kolobrzeg (Kolberg) an der polnischen Ostsee mit Hafen, nach 1945 wieder aufgebautem Leuchtturm und Rathaus. Viele kleine Parks gibt es mit Blumen der Saison, in diesem Fall waren es Tulpen: weiße, rote, lila, violette, schwarze Tulpen und ein interessantes Wasserspiel.
Der Campingplatz war nicht schlecht. Etwas störend war nur, dass morgens pünktlich um 7 Uhr Erdarbeiten begannen und abends um 22 Uhr ein Zug mit lautem Pfeifen auf sich aufmerksam machte.
Abends hatte ich dann keine Lust, mir mein Abendbrot selber zu machen. Also ließ ich mich ins nächstbeste Restaurant fallen und mir Piroggi auf russische Art auftischen. Eine aus Halle stammende Frau, die ihren Vater in die Kur begleitete, wollte mir weismachen, dass irgendwo im Wald Hitlers Hauptquartier, die Wolfsschanze, versteckt sei. Sie meinte aber die Wolfsbergschanze, eine schon 1807 gegen Napoleons Truppen errichtete Verteidigungsanlage. Die Wolfsschanze liegt nämlich in den Masuren.
Dass Kolobrzeg das ehemalige Kolberg ist, wurde mir erst am nächsten Tag bewusst, als ich mit dem Fahrrad noch einmal durch die Stadt fuhr und mir einige Inschriften durchlas. Irgendetwas war in meinem Gedächtnis und versuchte rauszukommen. Ein Blick ins Internet gab meinem Gedächtnis Nachhilfe: Nettelbeck, Abenteurer und Sklavenhändler, ein Mann des aufstrebenden Bürgertums, der den regierenden Preußen immer wieder ans Herz gelegt hat, sich eigene Kolonien zuzulegen, was aber genau so oft abgelehnt wurde. Nettelbeck, der zeitweise verfemt war und sich dann bei der erfolgreichen Verteidigung Kolbergs gegen Napoleon 1807 einen Namen gemacht hat. Die Nazis benutzten Nettelbeck als Patrioten für ihre Propaganda. Auf Anordnung von Goebbels drehte Veit Harlan einen Film über Kolberg mit Heinrich George in der Rolle als Nettelbeck. Der Film wurde in den Dienst der geistigen Kriegsführung gestellt.
Später wurde hier noch einmal viel Blut vergossen, als Hitler Kolberg zur Festung ernannt hatte, die gegen die Rote Armee und polnische Verbände zu verteidigen sei, koste es, was es wolle. Doch was damals den Kolbergern Bürgern gelang, war jetzt nicht mit Erfolg gekrönt. 70.000 Menschen
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wurden über die Ostsee evakuiert. 350 Soldaten der Reichswehr gerieten in Gefangenschaft. 1.568 deutsche und polnische Soldaten verloren ihr Leben.
Außer Fahrrad putzen und dem Annähen des abgerissenen Henkels der Kulturtasche habe ich nichts Produktives an diesem Tag geschafft. Kurz vor Torschluss habe ich noch im Supermarkt eingekauft. Von den niedrigen Preisen für Lebensmittel kann man hier nur träumen. Auch Lidl verkauft ihre Waren zu diesen Preisen.
Am nächsten Tag verließen einige Caravans den Campingplatz. Ich auch. Richtung Danzig. Es war wieder ein schöner Tag. Nicht zu warm und nicht zu kalt. Zwischendurch kam mir in den Sinn, dass ich mir vielleicht erst mal Sopot ansehen sollte. Der Ort war mir aus dem Erdkundeunterricht vor langer Zeit auch noch ein Begriff. Ich habe zwar nicht viel gesehen von dem Ort, aber was ich sah, gefiel mir nicht. Ich bin trotzdem zum Campingplatz gefahren. Das hat meinen Eindruck bestätigt: Der Platz war geschlossen. Von Sopot nach Danzig ist es nicht weit. Die zweispurige Straße ist wie eine Autobahn mit Seitenbegrenzung versehen. Wenn du nicht rechtzeitig rauskommst aus dem dichten Verkehr, musst du weiterfahren. Einmal habe ich es geschafft, um mir einen Wrap bei McDonald (es sind alle Fastfood-Ketten vertreten) reinzuhauen. Der Hunger war gar zu groß.
Der Verkehr wurde immer dichter, bis es nur noch Stop und Go ging. Alle 100 m eine Ampel, von grüner Welle weit und breit nichts zu sehen. Auf dem Campingplatz in Gdansk Stogi begrüßte mich ein junger Pole freundlich in fast perfektem Deutsch. Sein Vater komme aus Potsdam, erklärte er das. Bei schönstem Sonnenschein ging ich zum Dorschessen an den Strand. Man merkte der Kassiererin (Selbstbedienung) an, dass sie keinen Bock auf die Arbeit hatte. Und dann kam da noch einer, dem man vielleicht alles erklären muss, weil er die Sprache nicht kennt. Das war denn doch zu viel von ihr verlangt. Kaum stand das Essen als Fertiggericht im Alu-Behälter (es hat aber trotzdem gut geschmeckt) auf dem Tisch, zog sich der Himmel zu und die Hafenkräne auf der anderen Seite der Bucht verschwanden in dichtem Nebel. Und es wurde frisch, sehr frisch.
Beim Besuch von Danzig drängte sich mir ein Vergleich mit Venedig auf. Der Hauch der Geschichte weht dich an. Und es sind viele, die sich anwehen lassen: Touristen aus aller Herren Länder. Nur die kleinen wuseligen AsiatInnen mit ihren Selfie-Sticks fehlten. Das Rathaus ist wie viele Häuser Venedigs: Renovierungsbedürftig. Die Häuser der ehemaligen Patrizier sind natürlich sehr hübsch. Doch es war bitter, bitter kalt. 13 Grad um 9 Uhr morgens. Deshalb wollte die richtige Unternehmenslust nicht so richtig aufkommen. Dazu geriet ich noch in die Fronleichnamsprozession. Und zwar so, dass ich mit meinem Fahrrad zwischen den Massen eingekeilt war und nicht mehr vom Fleck kam. Jeder Fluchtversuch wurde von den Ordnern sofort unterbunden. So musste ich mir dann die Zeremonie wohl oder übel ansehen. Die Leute haben sich sogar auf den harten Straßenboden hingekniet, auch die älteren, die gar nicht mehr richtig hoch kamen.
Für die Marienkirche hatte mir meine Schwägerin einen Auftrag mitgegegben. Einer ihrer Urahnen aus dem 17. Jahrhundert soll darin begraben sein. Vielleicht könnte ich ihn ja finden. Aber das war ein unmögliches Unterfangen. Ein kirchlicher Mitarbeiter sagte mir, dass dort 8.000 Leute lägen. Außerdem waren die Inschriften am Boden schon sehr unleserlich. Es soll eine Website geben, auf der man sich auf elektronische Spurensuche begeben kann.
Nach dem Besuch in der Altstadt war ich froh, dass ich mich bei einem Türken aufwärmen und ein Schaschlik essen konnte. Allerdings pustete mir die Lüftungsanlage ihre kühle Luft genau aufs rechte Ohr. Ich habe mich zwar an den äußersten Rand gesetzt, aber es half nichts, im Laufe des Nachmittags fing meine rechte Schläfe im Wellenmodus an zu schmerzen. Und als das abends ein wenig abklang, fing mein Ohr an wehzutun. Zum ersten Mal auf der Fahrt schmiss ich die Heizung an. In diesem Jammerzustand wollte ich wenigstens nicht frieren.
Am frühen Morgen fing es an zu regnen. Nur weg hier, keine Marienburg, nichts mehr, dachte ich
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mir. Der Wetterbericht für die Masuren sah annehmbar aus. Unterwegs wurde es wieder angenehm warm. Aufgrund der schmalen Straßen musste ich mich unheimlich konzentrieren. Da die Cafés, wie schon ausgeführt, in Polen Mangelware sind, pumpte ich mich mit Cola voll. Aber irgendwann verliert auch die Cola ihre Wirkung. Zuerst führte mich das Navi auf eine Straße an die Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad (Königsberg). Die Straße war tadellos in Schuss und es war kaum Verkehr, so dass ich gut vorangekommen bin. Kurz vor der russischen Grenze musste ich abbiegen und jetzt wurden die Straßen schmal und teilweise auch recht holperig. Auch hier kam mir am Anfang keiner entgegen, was sich aber änderte, je mehr ich nach Süden kam. Die Straßen und der Gegenverkehr waren eine echte Beanspruchung. Außerdem löste ein kleines Dorf das andere ab, teilweise nur wenige Häuser ohne Straßennamen, mit Nummern versehen. Auf dieser Strecke fuhren in die eine Richtung 13 Busse am Tag mit 4 verschiedenen Zielorten. Einer fährt sogar nach Warschau. Nehmen wir mal an, dass in die Gegenrichtung genausoviel Busse fahren, dann macht das 26 Busse am Tag. So viele Busse fahren in Deutschland nicht in ländlichen Gegenden.
Bei Elblag (Elbing) musste ich tanken. Freundlich kam eine weibliche Servicekraft und machte alles für mich. Sie schwatzte mir auch gleich den teureren Premium-Diesel auf, der lt. Internetforen gar keinen Vorteil hat. Meine EC-Karte funktionierte aber nicht auf ihrem Gerät. Bei meiner Kreditkarte hatte ich wahrscheinlich bei der PIN-Eingabe einen Zahlendreher. Funktionierte also auch nicht. 68 € sollte ich bezahlen. 65 € hatte ich in bar dabei und einen kleinen Vorrat an Zlotty. Dann bekam ich ein paar Zlotty ausbezahlt und musste noch einmal 13,39 Zlotty nachschießen. Das ganze hat bestimmt 20 Minuten gedauert und ob das alles so in Ordnung war, weiß ich heute noch nicht.
In einem größeren Ort wollte ich einen Salat essen gehen. Die Speisekarte hatte ich mir schon selber geholt. Aber die Bedienung beachtete mich gar nicht, obwohl ich mehrmals laut und vernehmlich „Hallo“ rief. So ging ich einfach um die Ecke in ein kleines McBurger im Keller. Der Kassierer, ein mittelaltriger Mann, machte einen fahrigen und überforderten Eindruck, obwohl ich in dem Moment der einzige Kunde war. Die ältere Frau in der Küche machte aber einen recht anständigen Hamburger. Wahrscheinlich ist das Kleinstunternehmen für beide ein Versuch, wieder auf die Beine zu kommen.
Gegen 16 Uhr kam ich auf dem Campingplatz in Rydzewo an. Eine servile Frau, die perfekt englisch sprach, nahm mich mit aufgesetztem Lächeln und vielen Dienern in Empfang. Ich bekam einen Platz neben einem Ehepaar aus Ahrweiler. Er selbständig, einer von den politisch aufgeweckten Mittelständlern. Wir unterhielten uns prächtig.
Auf dem Campingplatz herrschte reger Betrieb. Viele Polen nutzten die Brückentage, um einen kleinen Abstecher in die Masuren zum Wassersport oder einen Familienausflug zu machen. Für die vielen Menschen gab es bei den Herren aber nur 2 Klos, 3 Duschen und 3 eng nebenander liegende Waschbecken. Aufhängevorrichtungen waren Mangelware. Während auf den anderen Campingplätzen die sanitären Anlagen schon früh während der Benutzung gereinigt wurden, passierte hier gar nichts. Manche polnische Camper haben sogar selbst zum Gummi gegriffen, um die größten Wasserlachen zu entfernen.
Bei der Stromversorgung gab es Probleme. Die Polen haben eine andere Norm bei den Steckern. Das war mir bis jetzt noch nicht aufgefallen, weil ich es noch nicht gebraucht hatte. Aber am Abend vorher hatte mein Wechselrichter, der über Solarpaneel und Batterie versorgt wird, den Dienst versagt. Kaum eine Woche in Betrieb und schon machte er die Beine breit. Wie sich hinterher herausstellte, war es die Sicherung. Also bin ich in den 40 km entfernt gelegenen Ort Gizycko gefahren, um dort einen Adapter für meinen Euro-Stecker zu bekommen. Ausverkauft, meinte der Verkäufer. Der Stecker in Polen hat die Form eines ganz normalen Hausstecker mit dem einen Unterschied, dass er am oberen Teil ein Loch haben muss für einen Dorn. Irgendwann auf einem Campingplatz zeigte mir ein Caravan-Besitzer, dass es bei der elektrischen Versorgungseinheit auch ein paar Stecker nach deutscher Norm gibt.
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Abends nach dem Essen regnete es auch hier, aber es war wenigstens warm und deshalb nicht so schlimm.
Am nächsten Tag war ich faul und energielos. Außer meinen Finger- und Fußnägeln habe ich nichts auf die Reihe gekriegt. Strom hatte ich jetzt. Die Platzbesitzerin brachte mir ihren einzigen Adapter vorbei, den ein anderer wieder abgegeben hatte. Zum Mittagessen ging ich in dasselbe Restaurant, wo ich am Vorabend leckeren Zander gegessen habe. Dieses Mal gab es Fisch aus dem See nebenan. Ich wurde nicht enttäuscht. Was es in Danzig zu kühl gewesen war, war jetzt wieder zu heiß: 27,5 Grad zeigte das Außenthermometer. Ich hoffte fälschlicherweise, dass eine Runde im See mich etwas frischer macht. Danach quälte ich mich mit dem Fahrrad ein paar Kilometer in der Hitze bis zu einem Punkt, wo zwei Seen durch einen kleinen Wasserlauf verbunden sind. Das war das Höchste der Gefühle.
Direkt an die Seen kommt man nur über Privatbesitz oder durch dichten Wald. Dann liegt aber noch ein dichter Schilfgürtel dazwischen. Wundert mich, dass es ihn noch gibt, weil manche Motorbootfahrer ziemlich aggressiv fahren, besonders die kleinen Flitzer.
Der nächste Tag war ein Sonntag. Die Kirchen waren ziemlich voll. In Barczewo liegen 3-4 Kirchen in Rufweite nebeneinander. Und jede hatte ihre Fan-Gemeinde. Jeder größere und auch kleinere Ort, der etwas auf sich hält, besitzt einen größeren Teich mit einer Fontäne (Wasser gibt es ja hier genug), umsäumt von einem Park. In Barczewo sieht das Ensemble sehr gut aus. Nur die Bewohner eines Gebäudes, das direkt an diesem Teich liegt, können die schöne Aussicht nicht genießen. Das Gebäude ist mit Mauer, Stacheldraht und Wachtürmen umgeben: ein Gefängnis.
Da mir auffiel, dass der Campingplatz bei Olsztyn (Allenstein) 8 km von der Stadt entfernt ist, habe ich mir erst mal die Stadt angeschaut und einen Hähnchensalat gegessen. So langsam kann ich doch einige polnische Ausdrücke, dass ich nicht immer wie der Ochs vorm Tor vor der Speisekarte stehe.
Allenstein wurde 1353 vom ermländischen Domkapitel gegründet. Zeitweise bekleidete hier Nikolaus Kopernikus das Amt des Administrators. Die Familie Koppernigk gehörte zum deutschsprachigen Bürgertum von Thorn. Als Administrator hat Kopernikus Allenstein gegen die Polen verteidigt. Heute ist er der große Sohn Polens.
Das Ermland hieß ursprünglich (und heißt es heute wieder) Warmia und war vom baltischen Volksstamm der Prußen oder Pruzzen besiedelt. Nach der Unterwerfung dieser Volksgruppe durch den aggressiven Deutschritterorden siedelte dieser deutsche Kolonisten an. Auch die westlich der Weichsel siedelnden slawischen Stämme, z.B. die Pomoranen, wurden unterworfen. Soweit zur Mär von immer schon zu Deutschland gehörenden polnischem Gebiet.
Nachdem die Ritter und ihre Orden, die bei den Kreuzzügen gegen die Muslime im sogenannten Heiligen Land wenig ritterlich geraubt, peplündert und gemordet hatten (Massaker in Jerusalem und Maarat an-Numan), aus Palästina wieder vertrieben worden waren, fielen sie in die Ostgebiete ein. Aber auch hier währte ihre Herrschaft nicht lange. 1410 bei Tannenberg erlitt der Orden durch das vereinigte Heer von Polen und Litauern eine vernichtende Niederlage.
Sich vorher die Stadt anzuschauen, war eine gute Idee. Der Campingplatz lag nicht nur 8 km von Olsztyn entfernt, er lag auch noch tief im Wald, auf einem sandigen Weg zu erreichen. Ich dachte zuerst, man wolle die Caravan-Besitzer in die Falle locken, so unwirklich war der Anfahrtsweg. Aber dann tat sich doch der Platz wie eine Oase auf, doppelt verrammelt, aber sehr idyllisch auf einer Halbinsel an einem Fluss gelegen. Es war nur eine kleine deutsche Kolonie an Caravan-Besitzern vorhanden. Aber die sanitären Anlagen sauberer und geräumiger als in Rydzewo.
Am späten Nachmittag kamen noch 2 Jungs aus Ibbenbüren, die mit PKW übers verlängerte Wochenende mal eben nach Riga gefahren sind (3.260 km hin und zurück). Riga hat ihnen sehr gut
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gefallen, aber sonst haben sie nicht viel gesehen. Sie konnten nur den guten Zustand der Straße in Lettland loben. Die Eltern des einen Jungen standen auf dem Campingplatz gleich nebenan. Da gab es am Abend natürlich Party mit viel Bier, so dass ich größere Schwierigkeiten beim Einschlafen hatte. Aber morgens standen die beiden genauso früh auf der Matte wie ich. Sie mussten am selben Tag noch nach Hause. Der eine zündete sich gleich nach dem Aufstehen eine Zigarette an. Man sah ihn förmlich zittern nach dem Stoff.
Der Tag wurde wieder sehr heiß. Das Wohnmobil wollte abends überhaupt nicht auskühlen. Das nächste Etappenziel war Torun (das alte Thorn) Es hat noch eine gut erhaltene Altstadt, die von der Wehrmacht nicht zerstört wurde. Schöne alte Häuser mit einer alten Stadtmauer drum herum, einer Ordensritterruine usw.
Der Campingplatz hatte nur elektrische Anschlüsse nach polnischer Norm. In Danzig gab es wenigstens ein paar Anschlüsse mit Euro-Norm. Die junge Frau an der Rezeption wies mir den Weg zum Media-Markt. Nach dem Stadtplan recht einfach. In Wirklichkeit habe ich erst mal einen großen Umweg gemacht, weil ich mich mal wieder zuviel auf mein Gefühl verlassen hatte. Der Media-Markt hatte aber keinen Adapter für den Euro-Stecker. Adapter für Briten und Amerikaner hatten sie, weil es in Polen ja soviel davon gibt. Ich habe jedenfalls keinen einzigen Briten oder Amerikaner dort getroffen, sondern immer nur die üblichen Verdächtigen, Deutsche, Holländer und zuletzt auch Franzosen.
Nikolaus Kopernikus war hier geboren. Heute ist er der große Held. Damals wurde er als Spinner angesehen und sein heliozentrisches Weltbild unseres Sonnensystems als eine Ausgeburt der Hölle. Beide christlichen Kirchen haben sein Weltbild vehement abgelehnt. Martin Luther hat ihn niedergemacht: „Der Narr will mir die ganze Kunst Astronomia umkehren! Aber wie die Heilige Schrift zeigt, hieß Josua die Sonne stillstehen und nicht die Erde!“
Nun hatte er ja sein revolutionierendes Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium erst kurz vor seinem Tode veröffentlicht. Wer weiß, was ihm passiert wäre, wenn er noch längere Zeit gelebt hätte.
Hoffentlich wird die Rolle der Kirchen damals den vielen Schulkindern beigebracht, die zu Hunderten um meine Beine herumwuselten. Genau wie in Deutschland gibt es hier auch den Wandertag. Und dabei werden schon mal ganz gern die alten Städte besucht. Eine Lehrerin, die ich auf Englisch darauf ansprach, erzählte mir, dass die meisten Kinder (es waren viele Erst- und Zweitklässler unterwegs) gar nicht zuhören, wenn der Lehrer ihnen etwas über Geschichte erzählt. Aber sie hoffte, dass doch das Eine oder Andere hängen bleibt. Sie reagierte mit einer solchen Herzlichkeit und viel Gefühl auf meine Fragen, wie ich sie so überhaupt noch nicht erlebt habe.
Die Turmbesteigung der Kirche St. Johannes musste natürlich auch sein. Bis jetzt bin ich ja immer um irgendeinen Eintritt in Kirchen herumgekommen. Hinaufzusteigen ohne Obulus ging auch ohne Probleme. Nur als ich wieder herunterkam, hat mich der Aufpasser erwischt und ich musste nachzahlen. Doch die Hinaufschnauferei hatte sich gelohnt. Man hatte von oben einen hervorragenden Überblick über die Altstadt.
An diesem Tag habe ich es endlich mal wieder geschafft, Ansichtskarten zu schreiben. Bei der ersten Tour hatte ich mir gar nicht die Zeit dafür genommen: Immer weiter, immer weiter hieß damals die Devise. Die Karten kamen immerhin nach 16 Tagen an. Tolle Leistung für eine Entfernung von etwas über 400 km.
Auf dem Campingplatz traf ich auf einen Stuttgarter mit Frau und 2 schwarzen, noch jungen und daher etwas tapsigen Großpudeln, die sich jedes Mal freuten, wenn ein Fremder kam und ihn dabei fast umrissen. Der Stuttgarter hatte sich seinen Mercedes Sprinter mit langem Radstand selbst ausgebaut. Und das nicht schlecht, muss man neidlos zugeben. Er hatte unter dem Bett einen großen Schlafplatz für seine Pudel und ansonsten alles an Bord, was mann und frau so brauchen. Die Kochgelegenheit war ein Ceranfeld. Nasszelle und Küche mussten ein wenig kleiner ausfallen, weil
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zusätzlich noch eine Sitzecke mit 2 Sitzen und Tisch eingebaut war.
Ich hatte gerade mein Abendessen beendet, da frischte der Wind auf und jagte dunkle Wolken über den Himmel. Die Dachluken habe ich noch geschlossen bekommen, doch beim Hereinkurbeln der Markise fielen die ersten schweren Tropfen. Danach prasselte es für mehrere Stunden. Als es gegen 22.30 Uhr wieder aufhörte, schwang ich mich aufs Fahrrad, um das angestrahlte Gemäuer von Torun von der anderen Seite der Wisla (Weichsel) zu fotografieren. Die Lage des Campingplatzes ist optimal. Man braucht nur über eine Weichsel-Brücke und schon ist man drin in der Altstadt.
Am nächsten Tag ging es weiter in Richtung Poznan (Posen), aber nicht ohne einen Abstecher nach Bydgocszc (Bromberg), der Heimatstadt meiner ehemaligen polnischen Freundin, zu machen. Ist auch ganz nett, aber was mich so richtig vom Hocker gerissen hat, war der Alte Markt mit dem wunderschönen Rathaus in Poznan. Ein riesiges Ensemble von alten Patrizierhäusern, eins schöner und interesanter als das andere. Auf dem Campingplatz habe ich einen älteren Herrn aus Nordhausen am Harz wieder getroffen, der einen Tag vor mir aus Torun abgefahren ist. Ihm war die Natur lieber als die Stadt mit ihrem Lärm und den Auspuffgasen. Mit ihm habe ich mich über die Sprachlosigkeit unterhalten. Diejenigen, die aus dem ehemaligen Westteil Deutschlands kommen, sind ja in einem anderen Sprachkreis aufgewachsen mit den Fremdsprachen Englisch und den romanischen Sprachen. Aber hier trifft man auf den slawischen Sprachkreis – und man ist sprachlos. Man versteht sich nicht. Das ist eine ziemlich große Barriere. Die Englischkenntnisse der Servicekräfte sind auf das Notwendigste beschränkt. Eine darüber hinausgehende Unterhaltung auf Englisch ist in der Regel nicht möglich. Obwohl Englisch in der Schule gelehrt wird, wurde mir gesagt. Nur hin und wieder trifft man, zumeist dort, wo man gar nicht mit gerechnet hätte, ältere Polen, die Deutsch sprechen. In Grenznähe sowieso.
Der Campingplatz in Poznan ist sehr schön gelegen, direkt neben einem See mit einer Regatta-Strecke. Sogar eine Skisprungschanze gibt es dort. Da ich unterwegs nur einen Hot-Dog vertilgt hatte, wollte ich mir etwas gönnen und ging ins Restaurant des Campingplatzes: Schweinelendchen. Der Teller sah äußerst übersichtlich aus: 2 kleine Lendchen, 3 Kartoffeln, 5-6 Pfifferlinge, 2 Haufen Rotkrautpürree und einen Häufchen Soße. Aber es schmeckte sehr, sehr lecker. Und danach war ich sogar satt, was aber nicht lange vorhielt.
Da der Himmel am nächsten Tag ziemlich verhangen war und der Wetterbericht auch keine Aussicht auf Besserung versprach, fuhr ich weiter Richtung Oderbruch. Die Tour sollte so enden wie sie angefangen hatte, mit einer Fahrradtour an der Oder entlang. Der Campingplatz in Zechin mit angeschlossenem Schwimmbad ist urig. Es gab nur wenige Camper. Der Platz wird rein ehrenamtlich betreut, deshalb ist er ziemlich preisgünstig und man wird sehr freundlich aufgenommen. Das Schwimmbad ist ein kleiner Natursee mit abgetrennten Bahnen, die allerdings aufgrund der Strömung eine schöne Biegung machten. Das Wasser war noch ein bisschen frisch, aber auszuhalten. Anderntags fuhr ich auf dem Oderdamm. Wunderschöne Landschaft.
Aber auch hier holte mich die Geschichte ein: Am 31. Januar 1945 bauten die sowjetischen Truppen bei Kienitz den ersten Brückenkopf westlich der Oder. Mitten im Ort steht als Erinnerung noch ein sowjetischer T34-Panzer. Direkt am Radweg ist in einer ehemaligen Kirche das Café Himmel & Erde untergebracht. Von der Kirche stehen nur noch die Wände. Sie wurde damals von der Wehrmacht zerbombt, weil darin ein sowjetischer Befehlsstand untergebracht war.
Auf den Seelower Höhen fand die letzte große Schlacht des Weltkrieges II statt. Obwohl der Krieg schon verloren war, kratzte das faschistische Deutschland alles zusammen, was noch eine Waffe tragen konnte, den sogenannten Volkssturm, Männer von 16 bis 60 Jahren, schlecht ausgebildet und ausgerüstet, und schickte sie in den Tod.
Am 16. April 1945 um 3 Uhr MEZ brach die Hölle los. Tausende von Geschützen der sowjetischen Armee (die Zahlen gehen von 9.000 bis 40.000), darunter die gefürchteten Katjuschas, auch als
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Stalinorgel bekannt, spuckten Tod und Verderben über die deutschen Linien. Überlebende sprechen von einem Erdbeben. Dann auf einmal gespenstische Ruhe. Danach begann das große Schlachten. Der Widerstand war groß. Die sowjetischen Truppen kamen nicht voran. Als schwerer Fehler erwies sich, dass das Schlachtfeld mit Flakscheinwerfern ausgeleuchtet wurde, die die deutschen Soldaten blenden sollten. Der herrschende Nebel verteilte aber das Licht und warf es sogar zurück, so dass die sowjetischen Soldaten wie auf dem Präsentierteller niedergemäht werden konnten. 4 Tage währte das Schlachtfest, bis die letzte Verteidigungsstellung der Wehrmacht bzw. der SS überrannt war. Diese Aktion kostete noch einmal mehrere Zehntausend Menschen das Leben, in der großen Mehrheit sowjetische Soldaten. (Auch hier gibt es keine genauen Zahlen, sie gehen von 45.000 bis 100.000). Die Kulturlandschaft Oderbruch, dessen Eindeichung und Trockenlegung größtenteils zwischen 1747 und 1762 unter dem preußischen König Friedrich II. (Friedrich der Große) stattfand, wurde total zerstört.
Der sowjetische Oberbefehlshaber Marschall Georgi Schukow peitschte seine Soldaten rücksichtslos vorwärts. Er stand unter Zeit- und Erfolgsdruck. Am 1. Mai sollte Berlin eingenommen sein und die Amerikaner standen schon an der Elbe. Es galt aber, so schnell wie möglich die auf dem Verhandlungsweg erzielten Einigungen beim Londoner Abkommen vom 12.09.1944 und auf der Krimkonferenz vom Februar 1945 militärisch abzusichern. Die Ergebnisse der Konferenzen sahen folgendermaßen aus (man muss sich das noch einmal ins Gedächtnis rufen, um vergleichen zu können, was in der folgenden Zeit daraus geworden ist):
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Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen
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Gemeinsame Besetzung von Berlin
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Entwaffnung der deutschen Streitkräfte
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Zerschlagung des deutschen Generalstabes
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Zerstörung bzw. Entfernung aller militärischen Einrichtungen
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Beseitigung der Industrie, die für militärische Produktion genutzt werden kann
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Bestrafung aller Kriegsverbrecher
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Wiedergutmachung für die von den Deutschen verursachten Zerstörung
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Ausschaltung der NSDAP, der nationalsozialistischen Gesetze und des nationalsozialistischen und militärischen Einflusses aus den öffentlichen Dienststellen sowie aus dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben des deutschen Volkes.
Der Kampf der Siegermächte um die Aufteilung Deutschlands und um die Einflussgebiete in Europa war also schon vor Beendigung des Krieges voll entbrannt. Das war die eigentliche Triebkraft des Handelns: der imperialistische Kampf um die Aufteilung der Beute und Neuaufteilung der Einflussgebiete und nicht die Befindlichkeiten von Schukow oder sonstigen Generälen, wie sie in dem Artikel in der Welt vom 16.04.15 zum Ausdruck kommen. (Kampf um Berlin: Egomanie führte zur Schlacht um die Seelower Höhen – DIE WELT)
Genau so wenig war die Anzettelung der beiden Weltkriege der Ausdruck von irgendwelchen Persönlichkeitsstörungen des Kaisers oder von Hitler, sondern notwendiges Mittel zur Durchsetzung der imperialistischen Interessen Deutschlands.
In der Gedenkstätte in Seelow, die jeder besuchen sollte, der sich in der Gegend befindet, wird ein Dokumentarfilm gezeigt, der versucht, das Inferno nachzuzeichnen.
Allerdings wird dort auch von einem Weltanschauungskrieg gesprochen. Das war dieser Krieg aber nur vordergründig. Es gehörte zur Propaganda auf beiden Seiten, den jeweiligen Feind in den hässlichsten Farben zu malen. In Wahrheit ging es wie in jedem imperialistischem Krieg um Aneignung von Bodenschätzen, Eroberung neuer Absatzmärkte, Plünderung anderer Länder, brutalste Ausbeutung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern. Dafür waren die deutschen Banken und die großen Konzerne bereit, bis zum letzten Atemzug die Erde zu verwüsten, in Schutt
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und Asche zu legen und Tod und Verderben über die europäischen Völker zu bringen. Die Nazis waren nur die willigen Helfershelfer des Großkapitals.
Die Bewegungsgesetze des Kapitals haben sich seitdem nicht verändert. Das sollte man immer im Hinterkopf haben.