4. Kampf um die 35-Stunden-Woche in der Stahlindustrie
Eines der ältesten Ziele der Arbeiterbewegung ist die Verkürzung der Arbeitszeit. Der walisische Fabrikant und utopische Sozialist Robert Owen formulierte 1830: „Acht Stunden arbeiten, acht Stunden schlafen und acht Stunden Freizeit und Erholung“. Diese Forderung aber war keine Utopie.
Erstmals in der Geschichte der Industriearbeit setzten die Steinmetze Sydneys im Jahre 1855 den Achtstundentag durch.
Auf dem Genfer Kongress der Internationalen Arbeiter Assoziation (IAA) 1866 wurde unter Mitwirkung von Karl Marx und Friedrich Engels die internationale gesetzliche Einführung des Achtstundentages gefordert und somit zur allgemeinen Forderung der Arbeiterklasse der gesamten Welt erhoben.
1868 erfolgte eine erste gesetzliche Regelung zur Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden in den USA. Sie betraf Arbeiter auf der Marinewerft von Charleston in Texas. Im Mai 1886 wurde ein Generalstreik amerikanischer Arbeiter in Chicago für den Achtstundentag brutal niedergeschlagen.
In Erinnerung an diesen Generalstreik legte die Zweite Internationale der sozialistischen Arbeiterbewegung auf ihrem Gründungskongress in Paris 1889 den Kampftag der Arbeit auf den 1. Mai fest.
Doch erst in der Novemberrevolution 1918 führte der Rat der Volksbeauftragten den Achtstundentag in Deutschland ein. Aus Angst vor einer Vergesellschaftung der Fabriken hatten sich zuvor Unternehmervertreter unter Leitung des Ruhrindustriellen Hugo Stinnes und Gewerkschaftsvertreter unter Leitung von Carl Legien zusammengesetzt. Die Unternehmer erkannten die Gewerkschaften als Verhandlungspartner an (Geburt der Tarifverträge) und die Gewerkschaften erkannten das freie Unternehmertun an. Beide Seiten kamen im Stinnes-Legien-Abkommen überein, den Achtstundentag in allen Unternehmen der Schwer- und Rüstungsindustrie einzuführen. Nachdem sich aber das Blatt wieder zugunsten des Kapitals gewendet hatte, wurde der Achtstundentag 1923 schon wieder ausgehebelt. Es durften auch wieder 10 Stunden gearbeitet werden.
In der Bundesrepublik wurde die erste 40-Stunden-Woche (5 Tage je 8 Stunden) 1956 für die Zigarettenindustrie per Tarifvertrag eingeführt. 1965 erst folgte die Druckindustrie, 1967 die Metallindustrie und die Holzverarbeitung, 1969 die Bauindustrie, 1970 Chemie, Papier und Textil, 1971 der Einzelhandel, 1973 die Versicherungen, 1974 die Banken und der öffentliche Dienst und 1983 die Landwirtschaft. Die DDR wollte nicht zurückstehen und führte die 40-Stunden-Woche 1967 per Gesetz ein.
Doch allein zwischen 1950 und 1977 hatte sich in Westdeutschland die Produktivität pro geleistete Arbeitsstunde vervierfacht. (Zur Produktivitätsentwicklung Deutschlands im internationalen Vergleich : Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung – 08997.pdf, Seite 16) Die Arbeitszeit war aber immer noch auf 40 Stunden festgeschrieben.
„Am 29. März 1977 forderte eine Belegschaftsversammlung bei Opel Rüsselsheim die Delegierten des damals bevorstehenden 12. Gewerkschaftstags der IG Metall einstimmig dazu auf, sich für die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit auf 7 Stunden, das heißt für die 35 Stunden-Woche bei vollen Lohnausgleich einzusetzen. Andere Belegschaften und IG Metall-Vertrauenskörper folgten diesem Beispiel. Der Vorstand der IGM war damit nicht einverstanden: Er „wird deshalb dem Gewerkschaftstag empfehlen, jene Anträge abzulehnen, die eine konkrete Reduzierung der Arbeitszeit auf 35 Wochenstunden und weniger fordern.“ So die damalige Berichterstattung (Frankfurter Rundschau 23.8.1977). 27 Verwaltungsstellen, die insgesamt 662.541 Mitgliedern vertraten, hatten entsprechende Anträge an den Gewerkschaftstag gestellt, sieben Verwaltungsstellen mit 308.681 Mitgliedern forderten sogar die 32- bzw. 30-Stundenwoche. In einer Kampfabstimmung wurde die 35-Stundenwoche mit 275 zu 261 Stimmen bei 4 Enthaltungen zum tarifpolitischen Ziel der IG Metall – gegen den erklärten Willen des Gewerkschaftsvorstands.“ (Der Kampf um die Arbeitszeit • LunaPark21)
Seit Ausbruch der durch das Erdölembargo der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) ausgelösten Überproduktionskrise im Herbst 1973 waren in der westdeutschen Stahlindustrie 40.000 Stellen abgebaut worden.
Im November 1978 war es dann so weit. Am 17.11. gingen 120.000 Stahlarbeiter in 14 Städten der Bundesrepublik auf die Straße und forderten die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und 5% mehr Lohn. Die Gewerkschaftsführung rief aber wieder einmal nicht den Vollstreik in allen Stahlbetrieben aus, sondern nur den Schwerpunktstreik in acht Betrieben. Am 28.11. traten 50.000 Kollegen aus acht Stahlbetrieben vor allem in Duisburg und Dortmund in den Streik. Die Unternehmer reagierten sofort. Am 1.12. wurden 30.000 Kollegen ausgesperrt. Dagegen forderten Stahlarbeiter: „Einbeziehung weiterer Betriebe in die Streikfront. Vollstreik!“ Streikposten standen nicht nur vor den Toren der bestreikten Betriebe, sondern auch dort, wo ausgesperrt wurde.
Die Solidarität in der Bevölkerung war groß. Die Streikposten wurden verpflegt und die Streikenden erhielten große Geldspenden aus allen Teilen der Bundesrepublik. Kollegen des Krupp-Werkes, die weder streikten noch von der Aussperrung betroffen waren, sammelten über 20.000 DM. 30.000 versammelten sich allein in Duisburg zum Protest gegen die Aussperrung und zur Unterstützung der Forderungen der Stahlarbeiter. Die Große Tarifkommission war durch diese Kampfbereitschaft gezwungen, einen durch Schlichtungsverhandlungen zwischen der Gewerkschaftsführung und den Unternehmern ausgehandelten Abschluss abzulehnen.
Das Ziel der 35-Stunden-Woche wurde in diesem 6-wöchigen Kampf aber noch nicht erreicht. Das von den Unternehmerverbänden aufgestellte Tabu, die Arbeitszeit nicht unter 40 Stunden zu senken, hatte noch Bestand. Die Gewerkschaftsführung ließ sich im Januar 1979 auf einen Kompromiss ein: eine stufenweise Urlaubsverlängerung auf 6 Wochen für alle Beschäftigten, zusätzliche Freischichten für Nachtschichtarbeiter und ältere Stahlarbeiter und eine Lohnerhöhung um 4 %. Die gültigen Arbeitszeitregelungen wurden auf weitere 5 Jahre festgeschrieben. In der Urabstimmung stimmten 45,53 % der Gewerkschaftsmitglieder gegen diesen Kompromiss. (siehe auch: Auseinandersetzungen um die 35-Stunden-Woche – Wikipedia)
Die österreichische Polit-Rock-Gruppe Die Schmetterlinge hat ein hervorragendes Lied über den Stahlarbeiterstreik gemacht. (Die Schmetterlinge – Der große Stahlarbeiterstreik 1978/79, „Herbstreise – Lieder zur Lage“, 1979 – YouTube)
Im November 1983 bezeichnete Bundeskanzler Helmut Kohl die Forderung nach einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden als absurd, dumm und töricht. Die Antwort auf diese Provokation kam postwendend. Im Juni/Juli 1984 erkämpften Metaller und Drucker eine Arbeitszeitverkürzung auf 38,5 Stunden.