2. Kampf um höhere Löhne in der Metallindustrie
Im September 1969 nahmen die Streik- und Protestaktionen in der Stahlindustrie wie auch im Bergbau richtig Fahrt auf. Es kam zu der umfassendsten Streikbewegung für Lohnerhöhungen seit 1963, und das gegen den Willen der Gewerkschaftsführung.
„Noch 1968 ließ sich die IG Metall, um Arbeitsplätze zu retten, auf sehr mäßige Lohnsteigerungen mit langer Laufzeit ein, und das, obwohl sich der Boom beim Stahl und im Gefolge auch beim Bergbau schon abzeichnete. Kurz darauf explodieren die Gewinne, doch die Arbeiter haben nichts davon, die Gewerkschaften unterliegen der tarifvertraglichen Friedenspflicht. Die Hoesch-Arbeiter sind noch schlechter dran als ihre Kollegen bei andern Konzernen, denn die Zusammenlegung mehrerer Hütten hat intern zu einem Wirrwarr unterschiedlicher Entlohnungen geführt. Seit drei Jahren hintertreibt die Konzernleitung eine Vereinheitlichung und Anpassung der Löhne an den Stand der Branche.“ (Bönnen & Endres)
„Das Unbegreifliche geschah: Deutsche Arbeiter streikten ohne Genehmigung“ – Mit diesem Satz beginnt der Inlandsteil des Spiegel am 15. September 1969. Der erste Streik bricht am 2. September bei Hoesch in Dortmund aus. 3000 Arbeiter der Frühschicht in der Westfalenhütte marschieren zur Hauptverwaltung des Konzerns, Hunderte dringen in die Flure ein und trommeln mit ihren Schutzhelmen gegen das Treppengeländer. Am folgenden Tag schließen sich die 20 000 Arbeiter der Hütten Phönix und Union dem wilden Streik an, dann springt der Ausstand auf Rheinstahl, Mannesmann und einen Teil der Ruhrbergwerke über. Schließlich streiken Stahlwerker und Bergarbeiter auch in Bremen, Osnabrück und Kiel, im Saarland und in der Oberpfalz. Werke werden faktisch besetzt, Konzernleitungen müssen in Hotels tagen. Zum Schlag ins Gesicht werden die wilden Streiks auch für die Gewerkschaftsführer. In Dortmund versucht der Bezirksleiter der IG Bergbau stundenlang, die Kumpel der Zeche „Minister Stein“ zur Arbeit zu bewegen. Er wird niedergebrüllt.“ (Bönnen & Endres)
BDI-Präsident Fritz Berg (1942 Mitglied des Beirats der Gauwirtschaftskammer, Leiter der Abteilung „Fahrrad- und Motorteile“ der Reichsgruppe Industrie) kommentierte eine falsche Nachricht der FAZ, nach der die Streikenden versucht hätten, die Privatvilla des Vorstandsvorsitzenden von Hoesch, Friedrich Harders, zu stürmen und von seiner Frau mit der Pistole in der Hand vertrieben worden seien, mit der Bemerkung: „Die hätte doch ruhig schießen sollen, einen totschießen, dann herrschte wenigstens wieder Ordnung.“ (Bönnen & Endres)
„Die Forderungen der Streikenden sind sehr konkret, und bei Hoesch werden sie schon nach wenigen Tagen vom überrumpelten Firmenvorstand vollständig bewilligt: 11 Prozent Lohnerhöhung, keine Anrechnung dieser Erhöhung bei künftigen Lohnrunden, keine Abzüge für die Streiktage.“ (Bönnen & Endres)
Arbeiter in anderen Firmen eiferten den Hoesch-Arbeitern nach. Die Unternehmer „machen fast überall sehr schnell große Zugeständnisse. Auch Firmen, die gar nicht bestreikt werden, zum Beispiel VW, verkünden von sich aus Lohnerhöhungen, um ein Überspringen des Funkens zu vermeiden.“ (Bönnen & Endres)
Anfang September 1969 werden allein in der Eisen- und Stahlindustrie 230.000 Streiktage und im Steinkohlenbergbau 49.000 Ausfallschichten gezählt. In allen Fällen gelingt es den Streikenden binnen kürzester Zeit, Lohnerhöhungen durchzusetzen – ohne die Gewerkschaften und jenseits der Vereinbarungen in den Tarifverträgen. (Geschichte der Gewerkschaften – Moderate Lohnabschlüsse)
Die sogenannten wilden Streiks im September 1969 wirkten sich beflügelnd auf die Tarifrunden in den nächsten Jahren aus. Die Kollegen trieben die Gewerkschaftsführung mit ihren Forderungen vor sich her. In der Tarifrunde 1970 wurde die Forderung nach 15 % mehr Lohn aufgestellt, die die Gewerkschaft zähneknirschend übernehmen musste.
Die durchschnittlichen Netto-Einkommen der Unternehmer waren von 1965 bis 1969 um 45 % gestiegen, die der Arbeiter und Angestellten jedoch nur um 23 %. Verantwortlich für diese Differenz war nach Meinung vieler Gewerkschaftler die Konzertierte Aktion. An dem vom damaligen Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) ins Leben gerufenen runden Tisch, an dem Vertreter der Gewerkschaften, Unternehmer, Bankiers, Landwirtschaft, des Handwerks und des Handels saßen, wurden gesamtwirtschaftliche Orientierungsdaten, wie z.B. Investitionen, Preissteigerungsraten und Lohnerhöhungsmargen festgelegt. Dazu kam die Inflation. Sie stieg von 1970 bis 1973 drastisch von 3,6 auf 7,1 %
„In der achtwöchigen Verhandlungsrunde (1970) um die neuen Tarife für rund vier Millionen Metallarbeiter flackerte eine zuvor in Westdeutschland kaum bekannte Kampfstimmung in den Betrieben auf. „Noch nie“, so behauptete der Stuttgarter Metallarbeiter-Führer Willi Bleicher, „war die Situation so explosiv wie in diesen Tagen.“ (GEWERKSCHAFTEN / LOHNKAMPF: Ende der Ruhe – DER SPIEGEL 45/1970)
Entsprechend groß war auch die Wut, als die Gewerkschaftsführung bei 10 % abschloss.
„Neunzig Vertrauensleute der Daimler-Benz-Filiale in Wörth, deren Arbeitnehmer sich auch mit dem Zehn-Prozent-Abschluss zufriedengeben mussten, schickten im Namen aller 5000 IG-Metall-Mitglieder des Betriebes eine Resolution an ihre Frankfurter Bezirksleitung, in der es heißt: „Wir brauchen mehr, und die Unternehmer können zahlen. Wäre die Gewerkschaft hart geblieben, wäre mehr herauszuholen gewesen.“
Und der ebenfalls nachgiebigen West-Berliner IG Metall stellten Unbekannte mehrere Molotow-Cocktails zu. Das Gewerkschaftsbüro brannte, ein Flugblatt, das die Täter hinterlegt hatten, blieb erhalten: „Ihr Arschkriecher — 15 Prozent waren das mindeste.“ (GEWERKSCHAFTEN / LOHNKAMPF: Ende der Ruhe – DER SPIEGEL 45/1970)
Im September 1971 forderte die IG Metall Nordbaden-Nordwürttemberg eine Lohnerhöhung von 11 Prozent. Das war der Auftakt zu einem der heftigsten Tarifkonflikte seit Ende des Zweiten Weltkrieges. 115.000 in 79 Betrieben traten in den Streik. Die Antwort der Unternehmer war die Aussperrung von 300.000 Arbeitern. 100.000 Beschäftigte in anderen Industriezweigen wurden durch die Folgen der Aussperrung indirekt betroffen. (Geschichte der Gewerkschaften – 1971: Der große Metall-Tarifkonflikt)
(Bei einer Aussperrung werden die Beschäftigten in einem Arbeitskampf vorübergehend von der Arbeitspflicht ohne Fortzahlung des Arbeitslohnes freigestellt. Für die Gewerkschaften erhöhen sich so die Kosten des Streiks, da sie mehr Streikgelder bezahlen müssen. Der Streik soll auch auf diese Weise in die Knie gezwungen werden.)
Im Januar 1973 einigte sich die Große Tarifkommission der IG Metall mit den Unternehmern auf eine Lohnerhöhung von 8,5 %, statt der in den Betrieben geforderten 16 %. In der Urabstimmung der organisierten Metaller brachte die Gewerkschaft ihren Abschluss nur mit knapper Mehrheit durch. „Schon in den folgenden Wochen bekamen die Metallfunktionäre die Stimmung in den Betrieben zu spüren. Im Februar streikten 15 000 Arbeitnehmer bei Hoesch gegen hohe Preise und für betriebliche Zulagen. Kurzfristig traten 10 000 VW-Arbeiter in verschiedenen Werken, 6000 bei Klöckner in Bremen sowie die Belegschaften von 24 Firmen im Raum Mannheim in den Ausstand; erst nachdem die Unternehmen in sogenannten Betriebsvereinbarungen außertarifliche Zuschläge gewährt hatten, legte sich die Unruhe wieder etwas.“ („IG Metall – ein angeschlagener Dinosaurier“ – DER SPIEGEL 36/1973)
Viele Metallunternehmen gewährten nachträglich Zuschläge, „sei es als vorgezogene Urlaubs- oder Weihnachtsgelderhöhung, sei es in Form unmittelbarer Lohnerhöhungen oder durch Änderung des Lohngefüges. Allein Opel gewährte nach der Tarifrunde viermal Nachschlag, insgesamt verdient ein Wechselschichtarbeiter bei Opel „in diesem Herbst etwa 120 Mark mehr als vor Jahresfrist: insgesamt rund zehn Prozent.“ („IG Metall – ein angeschlagener Dinosaurier“ – DER SPIEGEL 36/1973)
Einige Unternehmer brauchten aber noch eine Extra-Einladung für die Gewährung eines Nachschlags bzw. einer Teuerungszulage. Und hier waren es besonders die ausländischen ArbeiterInnen, die aktiv wurden. Sie waren ja besonders diskriminiert in allen Lebenslagen. Sie verrichteten die schmutzigsten, eintönigsten, nervenaufreibendsten, anstrengendsten, aber dafür schlecht bezahltesten Arbeiten. Ständig wurde an der Schraube der Arbeitshetze gedreht. Auch im Wohnungsbereich war die Lage katastrophal. (siehe dazu: Die „wilden“ Streiks 1969 und 1972/73 und die Rolle der „Gastarbeiterinnen“) oder auch (TÜRKEN-STREIK: Faden gerissen – DER SPIEGEL 37/1973)
Bei der Kfz-Beleuchtungsfirma Hella in Lippstadt und Paderborn erkämpften sie sich trotz Drohung mit Entlassung und eines brutalen Polizeieinsatzes 40 Pfennig mehr für die Lohngruppen 2-6, 30 Pfennig Zulage für die Lohngruppen 7-10 und 50 DM für die Angestellten. Weil alle Beschäftigten von dem Arbeitskampf profitierten, gab es keine Spaltung innerhalb der Belegschaft.
Bei der Vergaserfirma Pierburg in Neuss arbeiteten in erster Linie Frauen aus verschiedenen Nationalitäten. Ihr Streik war gut vorbereitet. Sie erkämpften sich den Wegfall der Leichtlohngruppe 2 (Frauenlohngruppe) und eine feste Stundenlohnerhöhung für alle Lohnempfängerinnen. Der Kampf war auch deshalb erfolgreich, weil sich die deutschen Facharbeiter dem Kampf anschlossen und auch vom Betriebsrat und dem gewerkschaftlichen Vertrauenskörper unterstützt wurde, was nur sehr selten vorkam, weil sich Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre meistens hinter dem Betriebsverfassungsgesetz bzw. der Friedenspflicht verschanzten. Auch die Bevölkerung in Neuss solidarisierte sich mit dem Streik. (Die „wilden“ Streiks 1969 und 1972/73 und die Rolle der „Gastarbeiterinnen“)
Bei Ford waren von 32.000 Arbeitern allein 12.000 Türken. Der Kampf in Köln-Niehl entzündete sich, als 500 Türken, die zu spät vom Urlaub zurückgekommen waren, fristlos entlassen wurden. Der Grund für das wiederholte Zuspätkommen der türkischen Kollegen war die zu kurze Urlaubszeit, die dazu führte, dass aufgrund der miserablen Straßenverhältnisse in der Türkei oft nur 2 Wochen für den Urlaub übrig blieben. (TÜRKEN-STREIK: Faden gerissen – DER SPIEGEL 37/1973)
Zu der Forderung auf Rücknahme der Entlassungen gesellten sich bald andere Forderungen dazu:
-
1 DM pro Stunde mehr für alle
-
6 Wochen bezahlten Urlaub für alle
-
Bezahlung der Streikschichten
-
Keine Strafverfolgung der Streikenden
-
13. Monatsgehalt
-
600 DM netto für die Lehrlinge
Der Streik endete mit einer Niederlage für die türkischen Arbeiter. Entscheidend daran war, dass es nur kurz gelang, eine gemeinsame Front der türkischen und deutschen Kollegen aufzubauen. Das war in erster Linie auf die geschickte Taktik der Geschäftsleitung (GL) zurückzuführen. Zuerst versuchte sie, den Streik auszutrocknen durch mangelnde Beteiligung der Kollegen. Die Arbeiter wurden immer wieder von der GL nach Hause geschickt. Über Funk und Fernsehen wurde bekannt gegeben, dass bei Ford nicht gearbeitet wird. Es wurde sogar in der Straßenbahn der KVB durchgesagt. Die Werksbusse, die die türkischen Kollegen aus den Heimen ins Werk und zurück transportierten, fuhren nicht mehr. In den Heimen ließ die GL Flugblätter verteilen, auf denen die Kollegen aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben. Werkstore wurden von der Polizei abgeriegelt. Sie forderte auf, das Werk zu räumen, anderenfalls würde es einen Polizeieinsatz geben.
Die am zweiten Tag des Streiks gewählte Streikleitung hielt dagegen. Sie wollte natürlich so viele Kollegen wie möglich im Betrieb haben. Abordnungen wurden in die Heime geschickt zur Mobilisierung der Kollegen. Die Streikenden besetzten ihrerseits Werktore. Ein von der Polizei besetztes Tor wurde ausgehängt. Die Kollegen kletterten über den Zaun oder schnitten Löcher hinein.
Die IG Metall ließ über Lautsprecherwagen mitteilen, dass Verhandlungen zwischen GL und Betriebsrat (BR) begonnen hätten. Damit schaffte sie es, dass ein Teil der deutschen Kollegen nach Hause ging.
Das Verhandlungsergebnis zwischen GL und BR bestand aus 280 DM Teuerungszulage, Bezahlung der Streiktage und Zurücknahme der Entlassungen, soweit Entschuldigungen vorlagen. Die deutschen Kollegen waren damit zufrieden, aber die spezifischen Forderungen der türkischen Arbeiter (siehe oben) waren nicht berücksichtigt. Also streikten sie weiter.
Ein anderes Mittel zur Spaltung der gemeinsamen Front war die in allen Medien verbreitete Hetze, dass Radikale sich in den Betrieb eingeschmuggelt hätten und die Unruhe schüren würden. So deckte der BR-Vorsitzende Ernst Lück in der Kölner Zeitung Express angeblich auf, wie Radikale bei den wilden Streiks mitmischen und die Forderungen gemäßigter Arbeitnehmer für sich ausnutzen (Express vom 28.8.1973). Nun waren in der Streikleitung unbestritten auch Kommunisten vertreten, die bei Ford arbeiteten. Nun, Kommunisten gehören nun mal in die vorderste Front bei Arbeitskämpfen, sofern es Kommunisten sind. Den türkischen Kollegen war es auch ziemlich egal, welche Meinung diese Leute vertraten, wenn sie sich als gute Kämpfer erwiesen. Nur bei den Kollegen, die nicht mitkämpften, verfing diese Hetze.
Als der Streik aber immer noch weiter ging, schlug die GL mit Hilfe der Polizei zu. Sie organisierte eine Gegendemonstration unter dem Motto „Wir wollen arbeiten!“ mit Meistern, Streikbrechern, Schlägern, denen nachgesagt wurde, dass sie Faschisten waren und Leuten in Meisterkitteln mit Pistolen unter dem Kittel, mit anderen Worten: verkleideten Polizisten. Um die 800 sollen es gewesen sein. Die Gegendemonstration war militärisch organisiert, zersplitterte die Streikenden in mehrere Teile und verwickelte sie in eine Schlägerei. Das war das Signal für die bereitstehende Polizei, die sogenannten Rädelsführer brutal festzunehmen und den Streik endgültig zu zerschlagen.
Über 100 Kollegen, hauptsächlich Türken, wurden fristlos auf die Straße gesetzt. Die GL bot an, die fristlose in eine freiwillige Kündigung umzuwandeln. Mehr als 600 Kollegen kündigten daraufhin freiwillig. Damit hatte Ford nicht gerechnet und stellte Leute wieder ein, die die GL wegen verlängerten Urlaubs rausgeschmissen hatte. Eine detaillierte Schilderung des Streikverlaufs gibt es hier: Arbeiterkampf_1973_StreikbeiFordKln.pdf